Eigenartig,
wie sich nun allerorten der Wunsch nach mehr Menschlichkeit regt, nach mehr
Miteinander, nach mehr Solidarität, nach mehr Fürsorge. – Als wären wir es
nicht selbst, die über das Ausmaß dessen entscheiden, was wir uns gegenseitig
geben. – Mir fällt ein Zitat des Verhaltensforschers und Konrad-Lorenz-Schülers
Eibl-Eibesfeldt ein, der in einem seiner wundervollen Werke sinngemäß schrieb:
Wie sehr der Mensch in der Stadt – auf die er (phylo)genetisch gar nicht
programmiert sei – in Wirklichkeit leide, erkenne man daran, wie er am
Wochenende nachgerade panisch ins Grüne flüchte; – und damit in eine Umwelt,
die ihm offensichtlich gemäßer sei. Ich denke, dass die aktuelle Situation uns
erlaubt, auf eine Analogie zu schließen: der Mensch leidet unter der
selbstgeschaffenen Entmenschlichung der vergangenen Dekaden, unter ihrer
Distanz, ihrer emotionalen Kälte, unter der Vernutzmenschung des Individuums
als Wirtschaftsfaktor, der gefälligst ohne menschliche Bedürfnisse zu sein
habe. Und falls doch, dann seien diese selbstverständlich dem Interesse des
Unternehmens unterzuordnen. Ein solches, wenngleich perverses, System bleibt
lange funktionsfähig. In Zeiten der Krise allerdings offenbart sich seine
Unehrlichkeit: Es ist gegen die menschliche Natur gerichtet, und wie alle
Verdrängungsmechanismen produziert es entweder Symptome, oder es erlebt den
Durchbruch und die Aufarbeitung der Verdrängung. – – Symptome hatten wir
reichlich und mehr als genug, in den vergangenen zwei Dekaden. Unsere
gesellschaftliche Chance bestünde darin, nicht weiter zu verdrängen, sondern
Rückwirkungen der Krise auf Gesellschaft und Arbeitswelt zuzulassen, die einen
Reifungsprozess ermöglichen. Denn klar ist ohnehin, dass ein weitgehend auf Verschleiß
angelegtes System auf Dauer keine Zukunft hat.
Natürlich gibt es Dummköpfe, die nichts kapieren und sich an nichts halten. Sie
in die Schranken zu weisen ist in Krisensituationen die Aufgabe des Staates,
denn meist reagieren sie tatsächlich nicht auf Einsicht, sondern nur auf Zwang.
Woher aber kommen die durchaus positiven Trends, die sich nun in unserem
gesellschaftlichen Leben abzeichnen? Mitmenschlichkeit, Nachbarschaftshilfe,
gemeinsame Anstrengungen, gemeinsame Dankesbekundungen an die Vielzahl der
Helfer*innen? Sie lassen etwas erkennen, was in einer immer narzisstischer
gewordenen Bevölkerung fast schon verschwunden schien. Umso wichtiger
festzuhalten, dass es sich hierbei nicht um eine aktuelle Stimmung handelt,
sondern um den Durchbruch dessen, was wissenschaftlich längst als
Kernbestandteil des So-Seins eines menschlichen Individuums nachgewiesen wurde.
Von Beginn der menschlichen Entwicklung an nämlich wirken im Menschen zwei
Strebungen zusammen, um ihm ein echtes Menschsein zu ermöglichen: Freud nannte
es „die Strebung nach menschlichem Glück und die nach menschlichem Anschluss“. Freud-Schüler
Alfred Adler sprach von „Streben nach individueller Vervollkommnung einerseits
und Entwicklung von Gemeinschaftsgefühl andererseits“. Es sind also polare
Strebungen, die den Menschen von frühester Entwicklung an treiben, und sie
wirken vom ersten Moment an zusammen: Erst die Einbettung in die z.B. familiäre
Gemeinschaft ermöglicht einem Kind das Überleben und die Entwicklung
individueller Neigungen, Bedürfnisse und Wesenszüge. Karl Köhle bezeichnet
diese beiden Strebungen als „Basiselemente der Passungskompetenz“ und
betrachtet sie als „Modalitäten von existentieller Bedeutung“ für alle
Lebensformen. – Passungskompetenz? Am besten wohl übersetzt mit der Fähigkeit,
sich in seinem Umfeld zurechtzufinden und dabei übermäßige Stressreaktionen zu
vermeiden.
Die gebräuchliche Bezeichnung in der heutigen Fachliteratur sind „agency“ und
„communion“ (s. dazu auch meinen früheren Essay). Agency also verfolgt
existentielle (und damit egozentrische) Interessen des Organismus als
Individuum. Es geht somit um individuelle Abgrenzung von der Gemeinschaft, um
Selbstregulation und Selbsterweiterung und nicht zuletzt auch um die Kontrolle
der Umwelt: Ich habe mir individuelle (!) Ziele gesetzt und versuche, mir meine
Umwelt im Sinne meiner Interessen gefügig zu machen. Autonomie, Leistung,
Kontrolle und Macht sind die Themen, die für den individuellen Lebenserfolg als
maßgeblich betrachtet werden. – Wer sich die vergangenen 30 Jahre ansieht, der
wird genau dies erkennen: „Du entscheidest selbst über dein Leben!“, suggeriert
uns die TV-Werbung und propagiert dazu im Zweifel ein Hühneraugenpflaster oder
eine Slipeinlage. Man wird wohl sagen müssen, dass vorwiegend narzisstische
Ziele im Vordergrund der Gesellschaft stehen: individueller Erfolg, der andere
ungerührt hinten runterfallen lässt. „Mein Auto, mein Haus, mein Boot.“ – – Schon,
ja, wenn´s dem inneren Frieden dient…? Nur frage ich mich dann, warum ein erfolgreicher
Mittdreißiger mir vor einiger Zeit sagte: „Wir dürften die depressivste
Generation der Nachkriegszeit sein.“ Und eine andere Gesprächspartnerin
ergänzte: „Uns hat man doch alles genommen!“ – Da staunt man nicht schlecht, so
als Nachkriegskind und Spät-Achtundsechziger.
Was also fehlt in diesem Konzert der vorgegaukelten Scheinautonomie? Ein Blick
auf das zweite Element könnte uns helfen: Es ist eigentlich sehr einleuchtend,
dass Menschen für ein Leben als abgekoppelte Einzelgänger nicht designed wurden,
– anders etwa als Eisbären, die in aller Regel alleine unterwegs sind, um die
Nahrungsversorgung zu vereinfachen. Menschen hingegen sind ihrer Natur nach (!)
Gruppenwesen. Von bestimmten krankhaften Störungen abgesehen, tragen sie in
sich das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen, nach Teilhabe
und nach dem wichtigen Gefühl, auf Augenhöhe dazuzugehören. Wir alle also spüren
in uns das fundamentale Verlangen, mit anderen eine Einheit zu bilden. – Und
dies nicht nur zahlenmäßig, sondern auch emotional. Das allerdings ist nicht
denkbar ohne emotionalen Austausch im Sinne von Geben und Nehmen. –
Wohlgemerkt: Es geht nicht um Sozialromantik, sondern um (phylo)genetische
Programmierungen, wie sie gerade im Bereich der Säuger dominieren: Soziale
Verbundenheit, Kooperation, Vertrauen, Intimität, Fürsorge, Zärtlichkeit, Liebe,
– alles das gibt uns das bestimmende Gefühl, alleine nicht „komplett“ zu sein.
Wir spüren ein massives Defizit. So begeben wir uns zu Freunden oder in
Kneipen, zu Geliebten oder in Vereine. Hauptsache nicht alleine!
Man kann allerdings nicht beides haben: Wer rücksichtslos seine eigenen
„Erfolgsziele“ propagiert, verweigert der zweiten lebenswichtigen
Daseinskomponente die Nahrung. Wer sich umgekehrt ohne soziale Zugehörigkeit
nicht definieren kann, verzichtet auf die Verwirklichung individueller Ziele.
Die 68er haben „das Soziale“ und die Solidarität teils aufdringlich in den
Vordergrund gestellt; Individualismus war nur geduldet, wenn er sich gegen das
„Establishment“ richtete, und damit war er keiner mehr. Wie zu erwarten, ließ
die Folgegeneration, die sich in den Pubertätsjahren von der Elterngeneration
unvermeidlich abnabelte, das Pendel in eine andere Richtung ausschlagen. Wobei
findiges Marketing sie nahezu von Kopf bis Fuß vermasste.
Man kann aber auf existentielle psychische Bedürfnisse ebenso wenig verzichten
wie auf Trinken, Atmen oder Verdauung: Findet es nicht statt, gerät der
Organismus aus der sogenannten „Homöostase“ – also einem definierten
Fließgleichgewicht -, erleidet mittelfristig Schaden und stirbt ab. Bevor er
das tut, wehrt er sich natürlich und versucht bei der nächstbesten Gelegenheit,
genau diese Homöostase wiederherzustellen. – – Klingelt´s?
Man wird kaum bestreiten können, dass unsere „erfolgs“-geile Gesellschaft schon
seit geraumer Zeit aus dem Gleichgewicht geraten ist, die Medien waren ja voll
davon: Depression, Burn-Out, Sinnkrise, etc.. Der soziale Druck, sich
individuellen Erfolg zu eigen zu machen, wird nur allzu oft als unerträglich
bezeichnet, und wenn ich Enddreißiger sehe, die „nicht mehr können“, aber den
Ausstieg aus dem Hamsterrad nicht finden, dann erlaube ich mir die These:
Unsere Gesellschaft ist schon viel zu
lange aus der Homöostase in den pathologischen Zustand geglitten. Man kann sich
diese Störung eine Zeit lang schönreden, doch zeigt genau der aktuelle
gigantische Stimmungsschwenk, dass offenbar schon lange etwas kollektiv
vermisst wurde: Die „agency“ war überdominant, die „communion“ fristete ein
Paria-Dasein. Anders lässt sich nicht erklären, wieso allerorten Stimmen laut
werden, wir müssten nun hoffentlich mal „zur Besinnung kommen“. Sowas muss man
nur, wenn vorher etwas gründlich aus dem Ruder gelaufen ist. Und offensichtlich
wurde es von der Mehrzahl aller Individuen deutlich wahrgenommen, wenngleich
verdrängt unter dem kollektiven Konformitätsdruck: Um dabei zu sein, musst du
„Individualist“ sein und darfst keine „Schwäche“ zeigen, also keine aus der
„Communion“ stammenden Bedürfnisse signalisieren. „Autonomie“ als Gruppenzwang.
– Widersinniger geht´s ja kaum.
So etwas trägt nur begrenzte Zeit, und ich erinnere mich gut an den Satz einer
befreundeten Psychoanalytikerin: „Ein falsches Selbst funktioniert höchstens
bis Anfang-Mitte Vierzig, dann kollabiert es!“ Mir scheint, das lässt sich auch
auf Gesellschaften anwenden. Sollte es also möglich sein, dass ausgerechnet der
Coronavirus in all seiner Grausamkeit (die wir als Gegenstück zum grausamen Anpassungsdruck
anscheinend brauchten?) uns den überfälligen Ausweg aus der Seelenkrise unserer
Gesellschaft weist? Es wäre makaber und zugleich ein Armutszeugnis für uns als
Community. Doch, wie gesagt, unterdrückte existentielle Bedürfnisse nutzen die
nächstbeste – oder eben auch die nächstschlechteste – Gelegenheit, in unser
Leben zurückzukehren.
Der Virus destabilisiert uns. Er schickt uns zurück auf „Los!“ Das ist Tragödie
und Chance zugleich. Und möglicherweise der Beginn eines (phylo)genetisch erzwungenen
Umdenkens auf das, was richtig ist, eben weil es menschlich ist.
STAY CONNECTED:
Ich habe Ihr Essay gleich zweimal gelesen; den Inhalt hat Hilde Domin kurz gefaßt
– Sag‘ dem Schoßhund Gegenstand ab
der dich anwedelt
aus den Schaufenstern.
Er irrt. Du
riechst nicht nach Bleiben.
In alter Freundschaft Ihr HCL