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Über Braune, Kugeln und Gewissen.
Wir waren dumme Buben, um die elf-zwölf Jahre alt, und so mag es erklärlich sein, dass wir die „Sensation“, die sich an unserer Schule ereignet hatte, als Gelegenheit für Kraftsprüche und Prahlereien nutzten, anstatt sie in ihrer ganzen Tragweite zu verstehen: Rüdiger Bleck, ein Schüler unserer Mittelstufe, war sechzehnjährig mit zwei Schüssen in die Brust getötet worden. Man entdeckte seine Leiche in einem kleinen Wäldchen am Rand unserer Stadt. Zwei Oberstufenschülerinnen, die sich am nahen Fluss gesonnt hatten, hatten seine Hilfeschreie und zwei Schüsse gehört und von zu Hause aus die Polizei verständigt, die den Ermordeten schließlich fand. – Allerdings erst am nächsten Tag, denn der diensthabende Beamte hatte die berichteten Schreie als Brunftschreie einer Rehdame abgetan, obwohl Rehe ja nur in Ausnahmefällen „Hilfe!“ rufen, wenn Schüsse fallen. Da es die Nacht über stark geregnet hatte, waren alle Spuren zerstört.
Bei der Suche nach dem Mörder tappte die Polizei im Dunkeln: Es kam heraus, dass Bleck seit Monaten mit geladener Waffe im Schulterholster in den Unterricht gekommen war. Rüdigers Mitschüler allerdings schworen Stein und Bein, nichts von alledem gewusst zu haben. Weder ausgiebige Befragungen noch aufgehängte Plakate erbrachten einen Hinweis auf Täter und Motiv. Die Lokalmedien spekulierten genauso hilflos wie die ganze Stadt.
Schließlich verlief alles im Sand. Edie Cedrac, einer aus Rüdigers Klasse, erzählte mir in der Eisdiele, nach seiner Meinung habe Rüdiger sich die Waffe im Münchener Zuhältermilieu besorgt, und vielleicht sei er denen zu forsch geworden, oder er hatte irgendwelche Schulden nicht bezahlt. Oder, oder, oder. Nichts ließ sich beweisen, die Ermittlungen wurden eingestellt, und bald gab es neue Themen, die das Schülerleben erfüllten: Die Beatles und die Rolling Stones zum Beispiel. Edie Cedracs blonde Haare wurden gut schulterlang, seine Hosen unten ausgestellt.
Ein gutes Jahr nach den Vorfällen machte Edie mich mit Luggi Dumoulin bekannt, einem von Rüdigers Klassenkameraden. Er war mir schon öfter aufgefallen: Ein großer, klobiger Typ, der vornübergebeugt dahinschlurfte. Seine Kleidung war mehr als bieder, seine braunen Schuhe viereckig, und er wirkte ernst und eigenartig scheu. Vermutlich hatte auch er mit einem tyrannischen Elternhaus aus der Tätergeneration zu tun, wie es für uns damals der Regelfall war. Wir freundeten uns an im Lauf der Zeit, und irgendwann fragte ich ihn, ob bei der Fahndung nach Rüdigers Mörder noch etwas herausgekommen war.
Er schüttelte den Kopf. „Den finden die nie. Weiß der Teufel, mit welchen Leuten der da geschachert hat.“
„Schon tragisch.“, meinte ich.
„Ach was! Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um! Ist halt so.“
„Ja, aber…“
„Ein anständiger Mensch läuft nicht mit ´nem Schießeisen in der Achsel herum. Keiner in unserm Alter hat sowas nötig!“ Zum Schweigen gebracht, eilte ich treppauf in unser Klassenzimmer. Wir begegneten uns noch oft und hielten unseren Schüler-Schwatz. Nur nach Rüdiger Bleck fragte ich ihn nicht mehr. Dann machte Luggi Abitur und verschwand aus meinem Blickfeld.
Fast dreißig Jahre später schrieb ich an meinem Roman „Trümmerkind“ (Lübbe, 2002), und die Geschichte fiel mir wieder ein. Ich fragte mich, ob das Verbrechen jemals aufgeklärt worden war und rief eine ehemalige Lehrerin an.
„Das wissen Sie nicht?“, fragte die mich erstaunt.
„Nö, woher denn? Ich bin schon ein Vierteljahrhundert in Bonn.“
„Der Mörder hat sich vor zehn Jahren selbst gestellt.“
„Oh lala, wer war es denn?“
„Luggi Dumoulin. Ich weiß nicht, ob Sie den kannten?“
„Flüchtig.“, sagte ich und setzte mich erst mal hin.
„Bleck hatte Luggi eine Pistole verkauft. Danach hat er ihn erpresst, weil Luggi nicht bezahlen konnte. Er hat ihm gedroht, sich an seinen Vater zu wenden. Dumoulin hatte eine höllische Angst vor dem Alten. – Bleck hat Luggi in das besagte Waldstückchen bestellt, um ihm ein Ultimatum zu stellen. Da verlor Luggi die Nerven und erschoss ihn.“
Ich schluckte immer noch. „Wie ist das denn alles herausgekommen?“
„Luggi war inzwischen verheiratet und hatte zwei Kinder. Eines Abends saßen sie gemeinsam in der Pizzeria. Luggi zahlte und schickte seine Familie nach Hause, er habe noch was zu erledigen. Dann ging er zur Polizei und sagte: Ich kann nicht mehr. Offenbar hatte er doch ein Gewissen.“
„Und wo ist er jetzt? Lebenslänglich?“
„Es wurde ziemlich dramatisch, als er wieder rauskam.“
„Moment mal, er hat sich vor zehn Jahren gestellt und ist schon wieder raus?“
„Er bekam nur zwei Jahre Jugendstrafe wegen eines minder schweren Falls von Totschlags. Selbst die Eltern des Ermordeten sagten zu seinen Gunsten aus und baten um einen Freispruch.“
„Und d-dann?“, stotterte ich verdutzt.
„Luggis Eltern ließen ihn fallen, und seine Frau ließ sich während der Haft scheiden. – Kurz nach seiner vorzeitigen Entlassung wegen guter Führung hat er sich zu Tode gesoffen.“
„Warum hat man ihn denn seinerzeit nicht überführt?“
„Es gab eine Verschwörung in der Klasse: Seine Kameraden sagten aus, sie seien mit ihm gemeinsam im Freibad gewesen. Fast alle in der Klasse wussten Bescheid.“
„Irrsinn!“
„Bleck war ein erklärter Nazi und verkaufte Waffen an seine Mitschüler. Ein Großteil der Jungs muss damals mit scharfen Waffen im Schulterholster durch die Schule gelaufen sein. Bei ihren regelmäßigen Schießübungen in dem Wäldchen hetzte Bleck gegen Juden, Linke, Schwule und alle Andersdenkenden.“
„Tja“, sagte ich. „Die Stadt war tiefbraun damals…Was ist mit den ganzen Burschen passiert?“
„Nichts, war ja alles verjährt. Auf ihren Patronenhülsen hatten sie die Namen der Lehrer eingeritzt, für die sie bestimmt waren. Was passiert wäre, wenn Luggi Dumoulin den Bleck NICHT umgebracht hätte, weiß kein Mensch.“
„Und heute?“
„Die Herren sind alle arriviert. Der Freund von Luggi, der ihn am meisten gedeckt hatte, war nach der Schule selber bei der Polizei.“
„Hat er gestanden?“
„Nein. Als Dumoulin sich gestellt hat, hat er sich mit seiner Dienstwaffe erschossen.“
„Wie hieß er?“, fragte ich, auf alles gefasst.
„Edi Cedrac.“, sagte sie.
Offenbar also spürten Luggi und Edi, dass ihr Gewissen ihnen keinen Ausweg mehr ließ. Und so stellten sie sich ihrer Schuld bis hin zur Selbstvernichtung. – Aber was eigentlich ist ein Gewissen? Vorab kann man es negativ formulieren: Bei klassischen Kriminellen ist die Gewissensbildung unterblieben. Entsprechend stehlen, rauben, vergewaltigen, morden sie. Eine bestimmte Hemmung also, die erst soziales Verhalten ermöglicht, scheint nicht ausgebildet zu sein. Drum spricht man bei diesen Menschen auch von einer „dissozialen Persönlichkeitsstörung“: Sie stellen sich außerhalb ethischer Normen.
Gewissensbildung hingegen vollzieht sich entwicklungspsychologisch im vierten und fünften Lebensjahr: „Die Ängste vor Bestrafung, die als Bedrohung der körperlichen Integrität erlebt werden, führen schließlich… zur Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil. Durch … Internalisierung entsteht nunmehr ein stabiles Über-Ich, die Gewissensinstanz.“, schreibt es der Berliner Psychosomatiker H.H. Studt. Sigmund Freuds Vorstellung nach wird das unbewusst-triebhafte Es in seinen Äußerungen durch das Über-Ich hemmend kontrolliert. Dabei wird das Über-Ich verstanden als Verinnerlichung der elterlichen und gesellschaftlichen Autorität, wodurch sich das Gewissen herausbildet. Es veranlasst das Kind, gesellschaftlich übliche oder erwartete Verhaltensweisen und Erwartungen einzuhalten. – Vereinfacht gesagt: Gewissen ist eine Zensurinstanz, die eigene Wünsche und eigenes Verhalten im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit den von außen übernommenen Wertvorstellungen prüft.
Die Braunen bewaffnen sich noch immer. Gewissen ist Fehlanzeige.