Über den Wahn.


Vevi war ein einfaches, grundanständiges Weiberl. Sie hatte nach vier Jahren Volksschule in der Landwirtschaft gearbeitet und mit neunzehn den Siggi geheiratet, den sie bei der gemeinsamen Arbeit auf dem Feld kennen gelernt hatte. Wie viele einfache Leute, hatte sie sich ein Lebenskonzept zurechtgelegt, das mit Gefügigkeit, Normtreue und demütiger Übernahme des von oben Gesagten einigermaßen zutreffend beschrieben ist. – Sie und der Siggi waren „brave Leute“, was meist mit Verzicht auf Auflehnung und Selbstbestimmung einhergeht.

Die Verbindung blieb kinderlos, dennoch schienen die Beiden gut miteinander klarzukommen. Sie hatten eine Wohnung im Obergeschoss des Hauses ihrer Nichte bezogen und lebten ein bescheidenes und zufriedenes Leben. – Bis der Siggi anfing zu spinnen.

Er beschuldigte die kreuzbrave Vevi nämlich, ihn vergiften zu wollen, und machte ihr wütende Szenen. „Aber da wirst schaun! Da gehst schon du vorher, bevor dass du mich erwischt!“
Vevi saß oft tränenüberströmt bei Verwandten und bat so ziemlich Jeden in ihrem Umfeld: „Kannst nicht DU mal mit ihm reden. Dass DU es ihm mal sagst!“ – Zwei Mannsbilder und die Nichte gaben sich jede erdenkliche Mühe, den Siggi zu überzeugen, bewirkten aber eher das Gegenteil: Jetzt nämlich „erkannte“ er, welches Ausmaß die Verschwörung gegen ihn schon angenommen hatte, und das steigerte seine Verbitterung. Entsprechend hart reagierte er: Er verprügelte seine Frau immer öfter, bis sie infolge der Gesamtsituation schier verzweifelte. Die Nichte und ihr Mann kamen immer wieder aus dem Erdgeschoss nach oben, um zu vermitteln, wo es nichts zu vermitteln gab. Denn der Siggi lebte so beharrlich in seiner Vorstellung, dass er irgendwann auch seine Vermieterin mit einem Messer bedrohte. Als er die arme Vevi ein weiteres Mal grün und blau schlug, verständigte man die Polizei. Vevi kam ins Krankenhaus, und der Siggi wurde wegen seiner paranoiden Schizophrenie endlich eingewiesen, woraufhin er völlig im Wahn versank und zwei Jahre später verstarb. Vevi fühlte sich darüber so schuldig, dass sie ihm ein Jahr später nachfolgte.

Wahn kann einem ordentlich Angst machen. Ich erlebte es, als ich eine gute Hamburger Bekannte, mit der ich bei meinen Aufenthalten gerne essen ging, mal wieder in einem Restaurant traf. Sie sah gehetzt aus, und ich fragte sie, was los sei.
„Meine Kollegen wollen mich fertig machen.“, raunte sie.
„Oh Gott, wieso denn?“
Sie blickte argwöhnisch durch das ganze Restaurant. „Die schrecken vor nichts mehr zurück! Sogar meine Wohnung haben sie verwanzt!“
„Deine W…!“
„Und mein Auto auch! Jedes Mal, wenn ich einsteige, such ich es ab nach Mikrofonen. Aber die sind raffiniert!“ Ihr Blick fiel voller Misstrauen auf ihre Handtasche. „Entschuldige, aber…“ Sie stellte die Tasche unter den Tisch. „Bei denen weiß man nie!“

Ich kann gar nicht sagen, wie kalt es mir über den Rücken lief. Immerhin kannte ich sie schon zwanzig Jahre. Grüblerisch und introvertiert war sie schon seit jeher gewesen, aber das hier?
Das Falscheste, was man in solch einer Situation machen kann, ist es, jetzt heftig zu widersprechen und „Überzeugungsarbeit“ zu leisten. Das geht nicht nur schief, es macht einen sogar zum Teil der feindseligen Umwelt. Und man darf nicht vergessen, dass die Betroffenen subjektiv in einer furchtbaren Situation sind: Sie erleben als subjektive Realität, was Außenstehende oft belächeln, und fühlen sich dann furchtbar allein gelassen und noch mehr verfolgt.

Ich ging auf ihren Wahn ein. Zeigte Mitgefühl. Fragte nach den Motiven der „Verschwörer“ und erntete überschäumende Dankbarkeit: „Wenigstens du kapierst es. Wenigstens du! Mein Gott, was bin ich froh!“
Schattenseite dieser Strategie: Als ich zurück war in Bonn, rief sie mich an und wollte mich für zwei Wochen besuchen. Ich hatte größte Mühe, es zu verhindern. Später, als sie auffällig wurde, behandelte man sie stationär und stellte sie medikamentös so gut ein, dass der Wahn sich fast vollständig erledigte.

Aber was ist eigentlich Wahn?

Nun, das menschliche Denken hat zwei wesentliche Komponenten: Den Denkablauf und den Denkinhalt. Ist der Ablauf gestört (sog. formale Denkstörung), dann wirken die Äußerungen des Betreffenden seltsam zerfahren und irgendwie inhaltslos, denn sie richten sich auf kein Denkziel mehr. Anders, wenn die Denkinhalte pathologisch sind: Dann wird etwas als Realität propagiert, was in Wirklichkeit nicht existiert. Das Denkziel also, das dann besonders hartnäckig verfolgt wird, kollidiert mit der Realität. „Ein durch Logik und Erfahrungsbasis unkorrigierbarer Irrtum“ (Faust), der dazu führt, dass die Beziehung zu Mitmenschen und Mitwelt aus der Gemeinsamkeit herausgerückt – also im Wortsinne „verrückt“ – wird. Unerschütterlich und unanfechtbar sind diese Überzeugungen, während der Betroffene – und das ist wichtig! – außerhalb seines Wahnsystems durchaus nach gesunden Maßstäben zu urteilen vermag. Ein wahnhafter Ingenieur kann also immer noch ein guter Ingenieur sein.

Einige interessante Beispiele für wahnhafte „Überzeugungen“:

  • Verfolgungswahn: Man wird von allen absichtlich schlecht behandelt.
  • Liebeswahn: Eine – gewöhnlich höhergestellte – Person ist in einen verliebt.
  • Größenwahn: Gesteigertes Gefühl von Wert, Macht, Wissen oder der Beziehung zu einem Gott oder einer berühmten Persönlichkeit.
  • Eifersuchtswahn: Der Partner wird ständig grundlos der sexuellen Untreue verdächtigt.
  • Körperwahn: Der Betroffene hat angeblich einen körperlichen Defekt, eine Störung oder eine Krankheit, wie z.B. AIDS und ist keiner rationalen Einsicht zugänglich.
  • Untergangswahn: Das Ende der Welt (oder mein eigenes) ist nahe!
  • Religiöser Wahn: Religiöse Überzeugungen werden zum alles dominierenden Lebensinhalt.

Die Reihe ließe sich noch fortführen. In allen Fällen jedoch gilt, dass Versuche des Wegredens das Wahngeschehen nur noch verstärken.

Richard Clarke, ein Schüler des legendären Milton H. Erickson, erzählte mir einmal: Eine seiner Patientinnen sei davon überzeugt gewesen, alle Menschen um sie herum seien „plastic people“, was auch immer damit gemeint war. „Ich habe das akzeptiert und sie gefragt, warum das so ist und wie es sich zeigt. Und sie hat es mir nach anfänglichem Zögern erklärt. – Nach einigen Wochen solcher Gespräche habe ich verstanden, warum diese Menschen für sie alle „plastic people“ sein MUSSTEN. Als ich es verstand, verstand sie es auch, und das war der Beginn eines umfassenden Heilungsprozesses.“

Wer sich mit solch pathologischen Formen konfrontiert sieht, schreckt erst einmal zurück und versucht sie abzuwehren. Dabei allerdings wird übersehen, dass es sich nicht um Bösewichte handelt, sondern um Kranke. Sie verdienen unseren Respekt und unsere Mitmenschlichkeit.


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