Ein paar Gedanken zu den Reichsbürgern.

Mir reicht es jetzt. Mit Wirkung vom 1. Januar 2020 erkläre ich hiermit den großen Parkplatz vor unserem Haus zur Freien Republik Bavaristan. Bürger der sogenannten Bundesrepublik Deutschland, die ihn benutzen wollen, haben bei dessen Betreten unaufgefordert ihren Reisepass vorzulegen und eine Tagesgebühr von € 30.- zu entrichten. Mit den Einnahmen aus dieser hoheitlichen Maßnahme werde ich schon in kurzer Zeit meine eigene Krönungsfeierlichkeit finanzieren und damit das von Napoleon verübte Unrecht wieder gut machen. Die Freie Republik wird dann zur Monarchie. König Bernd I. von Bavaristan. Ich werde Trump, Putin und Li Jinping einladen. Kim Jong Un wird mir die Krone anreichen. – Merkel darf nicht dabei sein, denn sie repräsentiert ein Gebilde, das in Wirklichkeit von Außerirdischen geschaffen wurde, wahrscheinlich ist sie sogar selber einer. In meinem Reich jedenfalls soll Gerechtigkeit herrschen und das Nationale an vorderster Front stehen. Meinen Hermelin werde ich mit Stolz tragen und schon bald eine eigene Armee aufstellen, die an moderner Bewaffnung die Großmächte überholen wird. Darüber hinaus werde ich den Austritt aus der europäischen Zeitzone erklären, denn ab sofort gilt Reichszeit. Außerdem setze ich den Jahresanfang auf den 1. Mai fest. Das Silvesterfeuerwerk gibt es also jeweils am 30. April, und zwar, um uns auch hier abzugrenzen, um Punkt 12 Uhr mittags.

Plemplem? Ich denke schon, ja.

Tatsache ist, dass es laut Bundesamt für Verfassungsschutz knapp 20.000 Leute in unserem Land gibt, die ähnlichen Hirngespinsten nachhängen. Die Dunkelziffer würde ich getrost um den Faktor 10 multiplizieren. Und das „Königreich Deutschland“ in der Lutherstadt Wittenberg unterhält nach wie vor seine Website, bei der seltsamerweise das gesetzlich vorgeschriebene Impressum nicht fehlt. Irgendwie muss man sich ja arrangieren mit der Realität des Feindes. „Mein Hund sch… sozusaachen auf Reichsgebiet!“, erklärte die „Ministerin“ eines anderen „Freistaates“ in einer Spiegel-Reportage. Und man fragt sich: Wie kann man dermaßen daneben sein? Wie kommt es, dass scheinbar erwachsene Leute diesem Gebräu aus Realitätsverweigerung, Wunschträumen und Omnipotenzphantasien erliegen, dem sie oft ihr gesamtes Leben unterordnen? Und wieso erscheinen 600 begeisterte Anhänger zur „Königskrönung“ des ehemaligen Kochs und Karatelehrers Peter Fitzek in Wittenberg, bei dem der Verdacht einer hochgradigen Störung ja doch sehr nahe liegt? Man greift sich ans Hirn, wohl bewusst, dass nur dort die Ursache des Ganzen gefunden werden kann.

Und da sitzt sie auch, nur kommt dies seltsamerweise nicht zur Sprache. Was uns einmal mehr beweist, dass Politiker und Bürokraten zwar viel von Vorschriften und abstrakten Prinzipien verstehen, nichts hingegen von Psychodynamik. – Halten wir also fest: Seltsam realitätsferne Ideen, seltsames Verhalten, das sich weit außerhalb der Normalität bewegt, dazu eine Selbsteinschätzung als „Wissende*r“, der dem Rest der Menschheit voraus ist, gepaart mit Wünschen nach Allmacht („Wenn ich was zu sagen hätte, …“) Viel zu wenig bekannt und dennoch maßgeblich ist hier, was in der Sprache der Kliniker als „schizotypische Persönlichkeitsstörung“ bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um Menschen, die nicht imstande sind, zu fühlen wie andere Menschen. Ihre Affekte sind verflacht bis hin zur Unfähigkeit, Freude zu empfinden. (sog. Anhedonie). Das äußere Erscheinungsbild ist oft ungepflegt oder eigenwillig, die Sprache eigenwillig bis bizarr, nicht anders die von ihnen verfolgten Ideen. Oftmals erfolgt ein sozialer Rückzug, denn das Misstrauen gegen die „Normalen“ ist groß und wird auch bei längerem Zusammensein nicht geringer. Realität wird in ihrer Bedeutung verkannt. Insgesamt wirken solche Menschen paranoid und „schizophren“, obwohl sie keine klassische Schizophrenie aufweisen. – „Reichsgründung“ also als Symptom krankhaften sozialen Rückzugs? Da eine politische Begründung kaum zu finden sein wird, bleibt letztlich nur eine klinische. Die Medizin allerdings ist sich noch nicht ganz einig, wie diese Störung zu klassifizieren ist. Im Diagnostic Statistical Manual 5 wird sie den „schizophrenienahen“ Störungen zugeordnet.

Doch woher kommt sowas? Die Fachliteratur geht zuallererst einmal von einer genetischen Veranlagung aus: Die Störung tritt gehäuft auf in Familien, in denen es Fälle von Schizophrenie gibt. Denn während sie in der Allgemeinbevölkerung mit ca. 1-3% Häufigkeit diagnostiziert wird, liegt ihr Vorkommen in Familien mit Schizophrenie-Fällen bei 7-14%. Man nimmt daher eine gemeinsame genetische Disposition für solche Erkrankungen an. Molekularbiologische Untersuchungen zeigen Mikrodefekte am langen Arm des Chromosoms 22. Darüber hinaus wird vermutet, dass Traumatisierungen oder eine Vernachlässigung in der frühen Kindheit ebenfalls zur Entstehung beitragen. So berichten viele Betroffene über sexuellen Missbrauch, körperliche Misshandlung oder Vernachlässigung in ihrer Kindheit. Es könnte sein, dass auch ein gefühlsarmes oder unpassendes Verhalten der Mutter dazu beiträgt, dass die Betroffenen sich schwer tun, engere zwischenmenschlichere Beziehungen einzugehen.

Interessant ist eine Übersichtstabelle in Uexkülls Lehrbuch der Psychosomatischen Medizin: Danach entwickeln 27% der Frauen und 30% der Männer mit Erfahrungen körperlicher Gewalt eine Persönlichkeitsstörung, wobei offen ist, ob diese z.B. narzisstisch, depressiv, zwanghaft, schizoid, dependent oder eben auch schizotypisch wird. Auch Erfahrungen sexueller Übergriffe führen bei Frauen zu 25% und bei Männern zu 16% zur Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung. Kumulieren diese Faktoren (z.B. noch mit Alkoholproblemen, Drogen, Kriminalität, Haft, Scheidung), dann nehmen die Prozentzahlen deutlich zu.

Ich entsinne mich eines Klienten, der eine kleine Autowerkstatt betrieb und mich wegen eines eher alltäglichen Problems aufsuchte. Doch schnell fiel mir auf: Er war völlig unfähig, sich vorzustellen, dass andere Menschen Interessen und Wünsche hatten, die sich nicht mit seinen deckten. Stattdessen hatte alles sich auf ihn zu beziehen, und falls nicht, wurde es als Angriff gewertet, der massiv beantwortet werden musste. Dazu lebte er, wenngleich freudlos, nach „hermetischen“ Gesetzen und kam unentwegt in Konflikt mit anderen Menschen. Seine bizarren Vorstellungen über menschliche Beziehungen ließen mir regelmäßig den Mund offenstehen. Er kam in kurzen Abständen zu mir, rief mich dazu noch zu unüblichen Zeiten an (z.B. abends um 23 Uhr und am Silvesterabend gegen 21 Uhr), um in langen Telefonaten meine Meinung zu sehr seltsamen Fragen einzuholen.

Seine neue Freundin hatte angeregt, endlich einmal sein Bad zu putzen. Gemeinsam arbeiteten sie zwei volle Tage daran, dann gab die Freundin auf, obwohl sie ein sehr aggressives Reinigungsmittel mitgebracht hatte, das bei beiden starken Schwindel und Übelkeit verursachte. Er vermutete, es war Phosphorsäure. – Nach dem gescheiterten Putzversuch jedenfalls beendete die Dame nicht nur die Reinigungsarbeiten, sondern auch die Beziehung. Dies brachte ihn zu blindwütigen Racheaktionen, die am Ende in einem Strafverfahren mündeten. Bereits früher hatte er die Ehefrau eines Bankers, mit dem er Schwierigkeiten hatte, privat angerufen, um sie zu fragen, ob sie wisse, „mit was für einem Menschen Sie da verheiratet sind!“ Die anwaltliche Reaktion folgte auch hier auf dem Fuß.

Nach einer ganzen Reihe hitziger Sitzungen, die sehr anstrengend waren, berichtete er schließlich von schweren Misshandlungen durch seine Mutter: Sie hatte ihn als Fünfjährigen „zur Strafe“ in einen Eimer heißes Wasser getaucht, so dass er längere Zeit im Krankenhaus verblieb. Wenig später hatte sie eine Bierflasche nach ihm geworfen, die zerschellte und ihm den Fuß zerschnitt, so dass er erneut im Krankenhaus landete. Ich versuchte ihm klarzumachen, ein solches Verhalten sei nicht „normal“, auch wenn er es selber so betrachtete. Mein Ziel war dabei, ihn sukzessive für die Notwendigkeit einer Behandlung zu sensibilisieren und ihn zu einem Münchener Psychosomatiker zu bringen. – Stattdessen brach er unsere Gespräche ab und sandte mir Mails, in denen er mich wüst beschimpfte. Mein Angebot zu weiteren Gesprächen, um ihn fachärztlicher Hilfe zuzuführen, beantwortete er mit Beleidigungen und verschwand schließlich im vertrauten Chaos und persönlichen Unglück. – Einer der wenigen Fälle, in denen ich einsehen musste, dass meine Bemühungen nichts fruchten würden.

Aber ich habe jetzt ja mein Königreich Bavaristan, das baut mich wieder auf.

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