Über Mitarbeiter mit Waschzwang.

Als Brenner anfing, im ganzen Büro die Türklinken zu desinfizieren, wurde es dann doch etwas viel. Bisher hatte man seine zunehmenden Eigenheiten toleriert, wenngleich bisweilen stirnrunzelnd, aber nun wirkte es sich auf die Stimmung im Büro aus. Geschäftsführerin Maja, eher eine von der toughen Sorte, untersagte ihm „diesen Quatsch“, doch da die Türen alle nach Sagrotan rochen, kam man bald darauf, dass er heimlich weitermachte. Er kassierte einen erneuten Anpfiff, während er das kleine Wischtuch, das er mit Sagrotan getränkt hatte, und das er stets zusammengeknüllt in der Hand hielt, nervös zwischen den Händen hin und her wechselte.

Es war in der Kanzlei schon aufgefallen, dass er seit einiger Zeit Begrüßungen mit Handschlag zu vermeiden suchte. Kam es doch dazu, nahm er sein getränktes Läppchen aus der Linken und wischte sich damit verstohlen die rechte Hand ab. Einige Klienten der Kanzlei hatten es bemerkt, und sie hatten diskret, wenngleich verwundert, bei der Geschäftsführung nachgefragt. Maja wiederum hatte dann bei mir nachgefragt.

„Was ist los mit dem? Meint der, wir waschen uns nie?“
„Das ist nicht das Problem.“
„Sondern?“
„Er hat offensichtlich einen Waschzwang.“
„Heißt das, er ist verrückt? Nicht mehr zurechnungsfähig?“
„Unsinn. Aber er hat ein psychisches Problem.“
„Würd ich aber auch sagen!“ Die Dame wurde energisch. Sie hatte sich gegen viele Widerstände nach oben gearbeitet und trug nur selten Samthandschuhe. „Und was tu ich jetzt? Soll ich ihn abmahnen?“
„Für eine Krankheit? Keine gute Idee.“

Es ging eine Zeit lang hin und her. „Was meinen Sie? Soll ich Ihnen den mal schicken und Sie nehmen ihn sich vor?“ – Immer wieder derselbe Irrtum: Der Coach baut einen Mitarbeiter nach Weisung um, damit die Geschäftsführung mit ihm zufrieden ist, klaro.
„Das wird nichts bringen, und das mache ich auch nicht. Er muss freiwillig und von selber kommen. – Aus Einsicht, und nicht aus Gehorsam.“
Nach längerer Diskussion verständigten wir uns auf ein gemeinsames Gespräch, – zu dritt, in meinem Büro.
„Ich geb Ihnen mal lieber nicht die Hand.“, sagte ich zur Begrüßung und erntete einen dankbaren Blick. Das grün-weiße Wischtuch in seiner linken Faust guckte zwischen Daumen und Zeigefinger hervor. Brenner setzte sich, nachdem er verstohlen über die Stuhlfläche gewischt hatte, und saß, als erwartete er seine Hinrichtung.

Menschen mit Waschzwang sind arm dran. Sie besitzen durchaus ein Gespür für die Sinnlosigkeit ihres Verhaltens und können ihm dennoch nicht entrinnen: Der Zwang ist unerbittlich. Ekel und eine alles überragende Angst vor Infektion und Krankheit treiben sie vor sich her. Gegen diese „Gefahr“ wehren sie sich mit verzweifelten Mitteln: Alles um sie herum wird desinfiziert, hundert Mal am Tag werden die Hände gewaschen und desinfiziert, dauernd wird die Kleidung gewaschen. Stundenlang stehen sie unter der Dusche, waschen und rubbeln sich, bis die Haut blutet. Und sind dennoch nie am Ende, denn das Infektionsrisiko lauert überall, und schon geht das Ganze wieder los, und die permanente Angst lässt sie in erneuten Wasch- und Reinigungsorgien versinken. Sie entwickeln minutiös durchgetaktete Waschrituale. Schon die kleinste Regelverletzung führt dazu, dass die Reinigungszeremonie von vorne begonnen werden muss. – Der Waschzwang entwickelt sich anfangs langsam und steigert sich immer mehr, bis die soziale Funktionsfähigkeit der Betroffenen buchstäblich vor die Hunde geht: Sie verlieren den Job und sind sozial völlig isoliert. – Dazu kommt die Scham über sich selbst: Der Verstand erkennt die Widersinnigkeit des Verhaltens, doch die unbewussten Zwänge sind gnadenlos.

Makaber: Gerade die exzessive Reinlichkeit führt zu Erkrankungen, denn die strapazierte Haut wird rissig und beginnt sich zu entzünden. Ekzeme mit Juckreiz und Schmerzen sind der Regelfall. Dabei steht im unbewussten Hintergrund des Zwangsgeschehens nicht etwa die Sorge um sich selbst, sondern die Angst jemand anderem (!) aufgrund der eigenen „Unreinheit“ Schaden zuzufügen. – Ein klarer Indikator für eine massive Selbstwertproblematik: Ich bin unrein. Ich bin nicht gut für dich. Ich mach jeden krank.

Das Gespräch lief wie erwartet: Maja ergriff das Wort, gab es nicht mehr her und schilderte ausführlich Brenners „Vergehen“ und deren Auswirkungen auf die Firma. Brenner versuchte zweimal zaghaft, etwas zu entgegnen, wurde aber niedergewalzt und sank in seinem Elend zusammen. Ich hörte eine ganz Zeit lang zu, dann faltete ich Maja zusammen: Die Überenergischen stoppt man nicht mit zarten Zurufen. Jedenfalls war sie erst verwundert, dann wurde sie nachdenklich, während Brenner mich dankbar anstrahlte.

Bisweilen ist es einfach nur ärgerlich, dass Menschen sich gegen jede Einsicht in psychische Erkrankungen anderer wehren, weil diese sich nicht mit dem eigenen Selbstbild vertragen. Dazu kommt, dass – natürlich! – Menschen mit solchen Störungen Abwehr und oft auch Ärger und Angst hervorrufen. Instinktiv will man damit „nichts zu tun haben“.  – Dennoch: der Betroffene ist schuldlos, und für eine Nierenbeckenentzündung würde man ihn ja auch nicht so behandeln.

Nachdem ich Maja gestoppt hatte, ergab sich ein intensives Gespräch mit Brenner, der sich nach anfänglichem Zögern immer mehr öffnete und immer mehr von sich erzählte. Es war nicht zu übersehen, dass sein Zwangsgeschehen das Ergebnis schwerster seelischer Misshandlungen in seinen ersten Lebensjahren war. Maja blickte ihn irgendwann an, und ihr rollten Tränen über die Wangen. Die Harten sind oft gar nicht so hart.

„Was schlagen Sie mir vor?“, fragte Brenner.
„Ehrliche Antwort?“
„Ja, unbedingt.“
„Sie könnten es mit Verhaltenstherapie versuchen, aber das wird ihre tiefen inneren Konflikte nicht lösen können. Nach meiner Meinung sollten Sie in eine psychosomatische Klinik gehen.“
„Aber er ist doch nicht verrückt!“, verteidigte Maja ihn auf einmal.
„Jedenfalls kriegt er dort Hilfe in Form einer mehrwöchigen Intensivtherapie. Danach brauchen Sie auf jeden Fall eine Anschlussbehandlung. Im ureigensten Interesse.“
In Brenner arbeitete es. „Und mein Job?“, fragte er schließlich kleinlaut.
„Das geht schon in Ordnung.“, sagte eine irgendwie völlig veränderte Maja.

Brenner begab sich für vier Wochen in eine psychosomatische Klinik im Rheinland und verlängerte dann freiwillig auf zwölf Wochen. Danach ging es ihm deutlich besser, und in einer zweijährigen analytischen Anschlussbehandlung wurde er so frei wie nie zuvor in seinem Leben. Doch kurz nachdem er in der Klinik verschwunden war, meldete sich zu meiner Überraschung Maja bei mir und bat um ein Coaching. Unser Gespräch hatte sie offenbar nachhaltig mit sich selbst konfrontiert. In mehreren Sitzungen arbeiteten wir eine Reihe seelischer Verletzungen aus ihrer eigenen Kindheit auf, und am Ende war sie deutlich ausgeglichener und damit deutlich weniger bissig. Was dem Betriebsklima sehr zugute kam.

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