Über Entscheidungsunfähigkeit.

„Sagen Sie mal, hab ich da echt so danebengehauen?“
„Sieht so aus.“
„Der Mann ist ein Totalausfall in der neuen Position!“
Lukas hatte einen Mitarbeiter namens Dennis befördert, mit dem er zwei Jahre lang stets zufrieden gewesen war: Der hatte alles tadellos erledigt, was man ihm aufgetragen hatte. In der neuen Position sollte er für das Team eigenverantwortlich entscheiden, – das allerdings erwies sich als Flop.
„Anfangs kam er ständig zu mir gerannt und wollte wissen, was er tun sollte. Mein Gott, hab ich ihm gesagt, entscheiden Sie´s jetzt doch endlich mal selber!“
Tat er aber nicht. Stattdessen blieb die Arbeit erst liegen, dann suchte Lukas sich einen Untergebenen, den er ständig fragte, wie er entscheiden solle, und der begann bald sich als Boss aufzuspielen, bis die anderen Kollegen ärgerlich wurden. Innerhalb kurzer Zeit war das Arbeitsklima unter Dennis´ „Führung“ abgestürzt. Dennis selbst machte sich unsichtbar und ließ die Truppe allein. Er saß in seinem Büro und grübelte fahrig vor sich hin.

„Was ist auf einmal los mit dem?“
„Er ist entscheidungsunfähig.“, sagte ich. „So lange er Anweisungen ausführen konnte, lief alles perfekt. Aber er kann nur dienen, nicht führen.“
„Und was steckt dahinter?“
„Schwer zu sagen: Depression, Angststörung, Trauma, Burn-Out, unter Umständen auch Dezidophobie…“
„Dezi…was?“
„Entscheidungsfurcht. Gehört zum Kreis der Phobien, also Angsterkrankung.“
„Was wollen Sie mir damit sagen?“
„Dass er kein fauler Hund ist, sondern dass es sich um eine Symptomatik handelt. – Von der Depression bis zu dependenter Persönlichkeitsstörung ist alles möglich.“
„Ich hatte schon gedacht, er treibt Spielchen mit mir.“
„Nein, es handelt sich um das Bild einer psychischen Erkrankung. Sie sollten ihm mit Respekt begegnen.“
„Sagenhaft! Hatten Sie mit sowas schon öfter zu tun?“
„Und ob!“, sagte ich und dachte an Lissy.

Lissy, damals unsere Nachbarin, war von Dirk scheinbar aus dem Nichts heraus verlassen worden und darüber völlig zusammengebrochen. Ihr Arrangement war ein eindeutiges gewesen: Sie lebte nur für und durch Dirk, dafür traf der alle Entscheidungen. Objektiv also regredierte sie in ein Kindheitsverhalten, wehrte alle Selbstverantwortung ab und bürdete Dirk die Last zweier Leben auf. – Bis es dem zu viel wurde und er zu Paula zog, wobei er Lissy und den kleinen Max großzügig finanziell versorgte. Lissy allerdings fiel von einem Angstzustand in den nächsten, obwohl sie realistisch betrachtet weit besser versorgt war als die meisten anderen verlassenen Partnerinnen. – Aber: Sie musste nun für sich und den Kleinen Entscheidungen treffen. Dazu war sie schlicht unfähig. Die stark bevormundenden Eltern hatten ihr das stets verwehrt, und als sie mit fünfzehn Dirk begegnet war, hatte sie sich flugs eine neue Abhängigkeit installiert, die immerhin fast zwanzig Jahre gehalten hatte. Als „erlernte Hilflosigkeit“ bezeichnet es Seligman. Nun traf es sie umso härter.

Max mochte mich nicht. Ich schien ihm zu groß und zu breit zu sein, und meine dunkle Stimme machte ihm Unbehagen. Versuchte ich freundlich auf ihn zuzugehen, stieß er ein angstvolles „Nein!“ hervor, drehte sich um und flüchtete sich zwischen die Beine seiner Mutter. Er litt sehr unter der Trennung vom Vater, und eines Tages erkrankte er an einer Bronchitis. Lissy tat das, was sie am liebsten tat: Sie umsorgte ihn. Allerdings hatte sein Zustand sich verschlechtert, und die Kinderärztin hatte mit ihr am Vormittag vereinbart, dass Lissy sie um 18 Uhr nochmals anrufen sollte. Je nach Zustand sollte der Kleine dann gegebenenfalls in die Kinderklinik.

Es war nachmittags um drei, als sie in der Leitung war: „Ich weiß überhaupt nicht, was ich tun soll…“ wimmerte sie. „Ich hab mit Frau Dr. Eis vereinbart, dass ich sie um 18 Uhr anrufe, aber Max geht es immer schlechter. Ich kann ihn überhaupt nicht mehr ansprechen. Er reagiert nicht auf mich.“
„Sofort in die Kinderklinik!“, sagte ich.
„Ja, aber, ich hab doch mit Frau Dr. Eis…“
„Ich bin gleich da. Richte du schon mal alles Nötige her!“
„Ja, aber…“

Ich fand einen präkomatösen Vierjährigen vor, der mit gelblich verfärbtem Gesicht schwer atmend auf dem Bett lag, ohne jede Körperspannung. Zwischendurch stöhnte er laut auf, aber er reagierte auf keine Ansprache.
„Hast du sie eigentlich noch alle?“, knurrte ich.
„Ja, aber ich weiß doch nicht, was ich tun soll…“
„Wir fahren sofort los mit dem. Sonst hast du ihn morgen nicht mehr.“
„Ja, aber ich hab doch mit Frau Dr. Eis vereinbart…“
„Halt deinen Schnabel und pack dein Kind ein!“, brüllte ich. Für Höflichkeiten war keine Zeit mehr.

Sie hingen ihn sofort an den Tropf. Der Kleine hätte die Nacht nicht überlebt. Lissy tat das, was sie konnte: Sie blieb die ganze Klinikwoche bei ihm, umsorgte ihn, überschüttete ihn mit Liebe. Das war ihre Stärke. Nur entscheiden konnte sie eben nicht.

„Und was macht man jetzt mit solchen Leuten?“
„Ich denke, Sie werden nach Unternehmensinteresse vorgehen müssen.“
„Der falsche Mann am falschen Platz, sagen Sie mir?“
„Aufgrund seiner Problematik scheint er der Aufgabe nicht gewachsen. – Aber denken Sie daran, dass er Hilfe braucht und keine Demütigung durch den Boss.“
„Fällt mir erst mal schwer, offen gesagt.“

Es gab ein offenes Gespräch zwischen Lukas und Dennis, in dem dieser zeigte, wie unglücklich er mit seiner neuen Position war, da er seine Überforderung letztlich selber wahrnahm. Das eröffnete Lukas die Möglichkeit, ihn von seinem Posten wieder abzuziehen, ohne dass es eskaliert wäre. Dennis war heilfroh, Lukas auch, wenngleich Dennis jeden Gedanken an kompetente Hilfe strikt von sich wies. Lukas allerdings hatte Geschmack am Thema gefunden und nahm einige Sitzungen bei mir, in denen er sich über die Grundzüge menschlichen Verhaltens und über psychologische Grundstrukturen informieren ließ. Er war ziemlich begeistert, denn plötzlich war ihm eine ganze Menge von dem verständlich, was ihm zuvor stets ein Buch mit sieben Siegeln gewesen war.

Einige Jahre später, ich war bereits zurück nach Süddeutschland gezogen, klingelte es spätnachmittags an meiner Tür. Ich hatte eben eine Coachingsitzung beendet und dachte, die Klientin hätte etwas bei mir vergessen. So öffnete ich.
Das erste, was ich sah, war ein unglaublich breites Grinsen. Ein Neunjähriger, der mich aus allen Poren anstrahlte und dann einen riesigen Satz auf mich zumachte und mir um den Hals fiel. Ich fing ihn auf und er blieb einfach an meinem Hals hängen.
„Hei du!“, schrie er vergnügt. „Staunst du, was?“
„Hei Max!“, sagte ich. „Und ob ich da staun´!“
Aus dem Hintergrund näherte sich Lissy mit einer Flasche Whisky in der Hand.

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