Über irreversible Schädigungen.

Manchmal platscht es dir ja einfach vor die Füße, und dann guckst du. Jedenfalls, Cathy stand verheult vor meiner Wohnungstür, weil Mami sie rausgeschmissen hatte. Ihre Mutter Lana war eine Bengali, ein Miststück, egoistisch, jähzornig, rücksichtslos und voller Rachsucht. Was sie mir allerdings aus ihrer Ehe mit Cathy´s Vater erzählt hatte, machte den Hass, den sie in sich trug und der sich spontan gegen Jeden richten konnte, ziemlich verständlich. Ihr Vater war Offizier bei der britischen Gurkha-Armee gewesen, ein eisenharter Hund, für den ein Leben wenig zählte, und für den Frauen wenig mehr waren als Abfall. Als überflüssiger Kostenfaktor seiner Familie war sie jung verheiratet worden und hatte ihren Mann, einen gewalttätigen Alkoholiker, nach einer traurigen Odyssee in England verlassen, um ohne Tochter nach Deutschland zu ziehen, wo sie sich beruflich neu installiert hatte. – Ein Sekretärinnenjob an einer Botschaft, der ihr ein gutes Auskommen ermöglichte. Jahre später hatte sie die inzwischen vierzehnjährige Tochter zu sich geholt, und aus der Mutter-Tochter-Liebe war umgehend pures Chaos geworden.
„Wo geh ich jetzt hin?“, heulte die Kleine. Wer die hübsche Achtzehnjährige mit den braunen Mandelaugen und den langen schwarzen Haaren kannte, der wusste allerdings ziemlich gut, dass sie mit ihrem Dickschädel und ihrer Oberflächlichkeit jeden zur Weißglut bringen konnte. Ich richtete ihr ein Gästebett. In zwei-drei Tagen, wenn die Wellen sich gelegt hatten, würde ich mal mit Mommie telefonieren und die Sache wieder glattziehen.
Dachte ich. Weit gefehlt. Cathy wohnte über ein halbes Jahr bei mir.

Am Ende dieses halben Jahres hatte ich eine satte Gastritis vor lauter Zorn. Cathy hatte schon vor ihrem Rauswurf das Klassenziel verfehlt, doch statt, wie sie mir geschworen hatte, auf die Nachprüfung hinzuarbeiten, vergnügte sie sich abwechselnd mit zwei Gleichaltrigen und ignorierte meine Empfehlung, auf Kontrazeption zu achten: „Ich weiß nicht, was du willst? Bisher ist ja auch nichts passiert!“ – Sprach´s und war schwanger und wusste nicht, von wem der beiden. Ich schleppte sie zu Pro Familia, organisierte den Eingriff und hatte größte Mühe klarzumachen, dass ich mit der ganzen Sache selbst nichts zu tun hatte. Das hinderte Cathy nicht daran, abredewidrig ihre beiden Lover im wechselnden Rhythmus zu mir in die Wohnung zu holen, sobald ich ein-zwei Tage geschäftlich unterwegs war. Umso zufriedener war ich, dass Mutter und Tochter sich an Weihnachten endlich wieder versöhnten. Denn Cathy hatte selbstredend die Nachprüfung versemmelt und machte auch keinerlei Anstalten, die Wiederholungsklasse zu schaffen, so dass sie am Ende von der Schule flog.
Cathy war liebevoll gewesen, anhänglich, herzlich – und ohne jedes Gefühl für Verantwortung, ausschließlich von spontanen Impulsen gesteuert, so wie beide Eltern es ihr immer vorgelebt hatten. Sie blieb in Verbindung mit mir, besuchte mich immer wieder einmal und erzählte mir von ihren Männergeschichten, die sie – noch nicht zwanzigjährig – exzessiv und zahlreich lebte, unübersehbar auf der Suche nach Bestätigung ihres Wertes und nach einem kurzen Moment des Zuhause-Seins; und ohne zu erkennen, dass die Mannsbilder sich nicht für ihre Seele interessierten, sondern nur für ihren hübschen exotischen Körper. Kritische Einwände meinerseits verpufften: Die Jahre mit dem gewalttätigen Vater und seiner recht gehässigen zweiten Frau, die miese Behandlung und die zahllosen Demütigungen und Entwertungen hatten Cathy´s Hunger nach Anerkennung zu einem regelrechten Strudel gesteigert. Sie agierte wie am Schnürchen gezogen. Doch verwechselte sie sexuelle Attraktivität mit Selbstwert.

Als sie mir ihr Hochzeitsfoto schickte, setzte ich mich erst mal auf den Hosenboden. Ich hatte nichts davon gewusst und interpretierte Cathy´s vorausgegangenes Schweigen so, dass sie sich wohl unwohl gefühlt hatte, mir davon zu erzählen. Cathy, so berichtete es mir eine gemeinsame Bekannte, eine Nepali, hatte nach dem Schulverweis einen Job in einer Hotelrezeption angenommen, war aber auch dort an die frische Luft gesetzt worden, da ihre Gästebetreuung immer wieder über das Dienstliche hinausging. Schließlich lernte sie auf einer Party Tom kennen, der ebenfalls einen Schulverweis vorzuweisen hatte, was ihn in besonderer Weise zu qualifizieren schien, denn es dauerte nicht lange, da war sie wieder schwanger. Da sie zwischenzeitlich bereits zwei weitere Abtreibungen hinter sich hatte, entschloss sie sich, das Kind – einen Jungen – zu bekommen und Tom zu heiraten. Er hatte ihr allerdings verschwiegen, dass er schon eine Jugendstrafe wegen Totschlags abgesessen hatte.

Schließlich kam sie mit ihm zu Besuch und stellte ihn mir freudestrahlend vor. Er gefiel mir überhaupt nicht, denn er hatte einen tiefen Groll in sich und wirkte verstockt und reizbar. Schon kurz nach seinem Eintreffen begann er, über seine Eltern herzuziehen, die ihn angeblich stets nur kontrolliert, bevormundet und übervorteilt hatten. Ich machte mir Sorgen um Cathy, die allerdings so glücklich war, als hätte sie eine besonders ergiebige Wundertüte aufgemacht.
Ein paar Mal hinterher besuchte sie mich mit ihrem Baby, war anhänglich und herzlich und wirkte doch irgendwie zerstört. Doch außer einigen Hintergründigkeiten war nichts aus ihr herauszuholen. Als ich sie zurückfuhr, begann sie jedes Mal zu zittern, je näher wir ihrer Wohnung kamen, seltsamerweise wurde auch das Baby unruhiger. Meine Fragen wurden etwas bohrender. Sie fiel mir um den Hals und verschwand.

Dann bekamen wir Unstimmigkeiten, als ich herausfand, dass sie sich während ihres Aufenthalts bei mir noch eine ganze Reihe anderer Vertrauensbrüche geleistet hatte, und ich ließ den Kontakt einschlafen, bis die Nepali mich aufgelöst anrief: Tom hatte sich schon kurz nach der Heirat als jähzorniger Despot entpuppt und sie vor dem gemeinsamen Kind regelmäßig grün und blau geschlagen. Cathy hatte sich nicht mehr anders zu helfen gewusst als sich ins Klo einzuschließen und durch das Klofenster zu flüchten, obwohl sie damit das Kind zurückließ, – so sehr fürchtete sie um ihr Leben. Schließlich hatte er sie so zusammengeschlagen, dass sie nach einer erneuten Flucht durchs Toilettenfenster die Polizei einschaltete. Diese ließ Cathy ins Krankenhaus bringen und erteilte Tom ein Betretungsverbot für die gemeinsame Wohnung. Cathy, die eine Woche stationär verbracht hatte, erwirkte ein gerichtliches Kontaktverbot und reichte die Scheidung ein.

Es dauerte nicht lange, bis die Nepali mich wieder anrief: Tom hatte sie spätabends betrunken aufgesucht und war laut weinend bei ihr im Treppenhaus gestanden, so dass sie ihn zu sich hereinließ. Er hatte ihr die halbe Nacht voller Selbstmitleid vorgeheult, bis die Nachbarn sich beschwerten. Sie erduldete mehrere solcher Besuche, doch war es immer schlimmer geworden, und schließlich hatte sie ihm nicht mehr geöffnet. In der Folgezeit traktierte Tom alle möglichen Leute mit Anrufen, auch bei mir versuchte er es einmal, doch ließ ich ihn – genauso wie die anderen – eisig abblitzen. Die Nachricht von seinem Tod erhielt ich dann wieder über die Nepali: Er hatte sich das Auto seiner Eltern genommen, sich betrunken und war dann – keine vierundzwanzig Jahre alt – mit hoher Geschwindigkeit frontal gegen einen Baum gefahren. Nach Aussage der Polizei bestand am Suizid kein Zweifel.

Cathy meldete sich nicht mehr bei mir. Ich erfuhr, dass sie von Sozialhilfe lebte und eine Therapie begonnen hatte, und auch der kleine Sohn war in Therapie. Jahre später sah ich sie auf einem alten Fahrrad an mir vorbeiradeln, ohne dass sie mich bemerkte. Sie war noch nicht einmal Mitte dreißig, doch war sie zu einer aufgequollenen, verlebten Frau mit ungepflegten, zotteligen Haaren geworden, die jede Attraktivität verloren hatte und einen ziemlich heruntergekommenen Eindruck machte. Umso makabrer, dass ich wenig später zufällig ihrer Mutter Lana begegnete, die sich augenblicklich in wüsten Beschimpfungen ihrer Tochter ergoss. „This woman is a gone case!“ Sie hatte Recht, doch sie übersah ihren eigenen Anteil.

Ein Jahr später heiratete Mutter Lana einen Orientalisten aus dem Auswärtigen Amt, von dem sie früher stets nur abfällig gesprochen hatte, doch anscheinend hatte sie ihn sich gezielt warm gehalten. Da er gut verdiente, brauchte sie nun nicht mehr zu arbeiten und kümmerte sich um die kleine Wohnung. Er wohnte nicht weit vom Amt,und da er sehr sparsam war, ging er in der Mittagspause nach Hause, um bei ihr zu essen. Eines Mittags kam er herein, doch die Wohnung war still, und es stand auch kein Essen bereit. Verwundert schaute er ins Schlafzimmer und fand Lanas Leichnam im Bett mit einem leeren Tablettenröhrchen. Erst da begriff er, dass er schon am Morgen neben seiner toten Frau erwacht war, ohne dies zu bemerken. Er hatte gefrühstückt und war ins Amt gegangen. – Nach dem Vorfall begann er zu trinken. Der Grund für Lanas Handeln blieb im Dunkeln, doch vermutete ich, dass sie an der eigenen Zerrissenheit zugrunde gegangen war.

Es war scheinbar ein Drama ohne Ausweg gewesen. Alle Beteiligten waren stark von ihren Impulsen und Gefühlen bestimmt, ohne sich auch nur ansatzweise selbst zu reflektieren. Es war auffallend, dass sie in Gesprächen über ihre Schwierigkeiten stets nur sich selbst im Auge hatten, jede Verantwortung zornig den anderen zuschrieben und erstaunlich wenig Sinn für die Konsequenzen ihres Verhaltens auf ihr eigenes Leben und für dessen Auswirkungen auf andere Personen hatten. Letztlich lief Jede/r von ihnen mit gewaltigen seelischen Defiziten herum, die jedes für sich eine zerstörerische Dynamik besaßen und sich in ihrer Kombination unweigerlich potenzierten, bis sie sich zu einer riesigen Tragödie auswuchsen.

„Everybody is right, in everything he does, IN HIS OWN WORLD.“, sagte mir Richard Clarke einmal, – ein Schüler des legendären Milton H. Erickson -, bei dem ich meine Hypnoseausbildung absolvierte: Die persönliche Geschichte, ihre Traumatisierungen, Entwertungen und Schädigungen führen zu einem Tunnelblick, dessen Wahrnehmung die Realität verzerrt und sie in altvertraute, wenngleich stark negative Muster der Wahrnehmung zwingt. Und so, vor dem Hintergrund aller seelischen Defizite und Verletzungen, richtet sich ein riesiger Wunsch an die Welt, sie habe all dies zu heilen und Kompensation zu leisten für den erlittenen Schmerz. Doch das tut sie nicht. Im Gegenteil wird früher oder später zum Opfer, wer es nicht schafft, dieser unerledigten Wünsche Herr zu werden und seinen Blick auf die Welt wieder zu entzerren. Geschieht dies nicht, finden häufig Menschen zueinander, deren Schädigungen sich zu sogenannten Komplementärneurosen ergänzen: Eine Kombination, die entweder für stabile, wenngleich hochneurotische Beziehungen sorgt oder eben für dramatisch-destruktive. Legionen von Ehen und Partnerschaften, aber auch Arbeitsverhältnissen werden so zu einem Konstrukt, in dem die Beteiligten nicht gestaltend tätig sind, sondern unbewusst das früh Erlebte immer und immer wieder in neuen Präsentationsformen reproduzieren.

Lanas Vater gab seine Schädigungen an seine Tochter weiter und suchte ihr einen Ehemann aus, der seine Traumatisierungen in seinem Sinne perpetuierte. So also tradierten Cathy´s Eltern, beide schwer geschädigt von einer rigiden Kultur, ihre Nöte und Verzweiflung auf ihre Tochter, die wiederum sich unbewusst einen Partner erwählte, der das elterliche Zerstörungswerk in der dritten Generation fortsetzte, weil er eben auch selbst eine Geschichte massiver seelischer Schädigungen aufwies. Lanas zweiter Ehemann war am Ende der ahnungslose und unschuldige Letzte in der Kette der Zerstörungen, wobei zu fragen war, welche seltsame Kraft ihn zu einer Frau gezogen hatte, deren gefährliche Seiten für den nüchternen Betrachter unübersehbar gewesen waren. Ich selbst war der Kaskade mit geringen Blessuren entkommen, doch die Erinnerung blieb bis heute.

Solche Menschen „…stellen unbewusst um sich herum immer wieder Zustände her, die ihnen dazu dienen, ihre alten inneren Konfliktthemen mit den dazugehörigen Phantasien und Gefühlen wiederzubeleben.“, schreibt Horst Eberhard Richter. „Das Verfahren der Psychoanalyse kann eine entscheidende Hilfe sein, diese psychischen Hindernisse allmählich abzubauen, die immer wieder eine Verwechslung der echten sozialen Realität mit projizierten Abbildungen der unbewussten kindlichen Vergangenheit bewirken.“

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