Über Job und Hilflosigkeit.

Fährt man vom Ammersee kommend durch das kleine Dorf Inning, so gibt es dort eine scharfe Z-Kurve, in deren einem Scheitel eine Tankstelle steht. Dort erlebte ich vor einigen Jahren einen Vorfall der etwas bizarreren Art, als ich an einem Novemberabend gegen zwanzig Uhr anhielt um zu tanken. Denn als ich den Kassenraum betrat, fiel mir sofort der verheerende Zustand der beiden Service-Damen auf: Die eine, eine brünette Enddreißigerin, wirkte bleich, fahrig und zerknittert, als hätte sie Furchtbares hinter sich. Die andere, eine blonde Mittzwanzigerin, sah nicht weniger angegriffen aus, und ihre Körpersprache vermittelte tiefste Resignation und Hoffnungslosigkeit. Schon beim Eintreten sandte sie mir einen Blick, der mich an ein sterbendes Tier im Unterholz erinnerte.
Ich überlegte, ob die Beiden etwa überfallen worden waren, verwarf den Gedanken aber wieder, denn Polizei war nirgends zu sehen. Ging mich ja nix an, letztlich.

Doch als ich mein Wechselgeld entgegennahm, stach mir ein äußerst unangenehmer, hochfrequenter Pfeifton in die Ohren. Noch während ich Geld und Beleg einsteckte, begann er mich grausam zu nerven.
„Ja, um Himmels Willen, was pfeift denn da?“, fragte ich und löste damit eine Explosion weiblicher Verzweiflung aus. Völlig überdreht und ohne Luft zu holen, sprudelte die Kassendame ihre Klagen hervor, denn „seit unserm Dienstbeginn um zwölf Uhr“ stand dieses grässliche Geräusch im Raum „… und keiner hilft! I sag´s Ihnen, i halt´s nimmer aus, i halt des total nimmer aus!“
Der psychophysische Kollaps, so schwante mir, war nur noch eine Frage weniger Sätze. Die junge Kollegin nickte dazu immer wieder, – ergeben und hoffnungslos, im Bewusstsein, dass das Leben grausam sein konnte und man seiner Willkür bisweilen wehrlos unterworfen ward.

„Ja, narrisch!“, sagte ich.
„Narrisch?“, schnappte die Dame. „Narrisch, sagen Sie? I bin FERTIG!“ Und schon flossen die Tränen. Die Jüngere nickte dazu verzweifelt. Offensichtlich hatte sie keine Worte mehr. Ein Kriegsopfer.
„Kommt das denn von den Kühltruhen hier?“, fragte ich, entschlossen wenigstens einmal im Leben Weißer Ritter zu sein, und zwei todgeweihte Jungfrauen der furchtbaren Bestimmung zu entreißen, in die ein übellauniger Germanengott sie offenbar geworfen hatte.

„I weiß es auch net.“, sagte die Dame leise. Ich schritt prüfend die Kühltruhen entlang, – der Ton wurde lauter und noch impertinenter. Die Dame folgte mir schnatternd, die Jüngere war hinter dem Tresen hervorgetreten, und ich fühlte, dass in diesem Augenblick eine existentielle Hoffnung auf mir lag, deren Zerstörung ich mir bis zum letzten Atemzug nicht mehr verziehen hätte.
„Nein“, überlegte ich, „die Kühltruhen sind´s net, hmmmm….“, und schritt weiter voran, in Erwartung des finst´ren Drachens, den ich notfalls mit bloßen Händen, etc. …
Nach zwei weiteren Kühltruhen kam ich an einer kleinen Tür an. Sie stand offen und führte in einen winzigen Raum, an dessen Wand ein Schaltkasten hing. An dem Schaltkasten blinkte eine rote Lampe, und aus dem Schaltkasten kam ein Pfeifton, mit dem man notfalls Schützenpanzer in kleine Schnipsel schneiden konnte.

„Da hamma´s doch!“, sagte ich, nicht wenig verwundert.
Meine Begleiterin nickte heftig und verhärmt, und schon ergoss sich ein neuer Wortstrom über mich, über die Grausamkeit eines Pfeiftons, über menschenverachtende Arbeitsbedingungen und über die Hilflosigkeit des zarten Geschöpfes Weib, das diesem Mahlstrom technischen Horrors zum Fraße vorgeworfen ward.
„Mhm.“, sagte ich, als sie kurz Luft holte. „Dann machen S´halt die Tür zu.“
„Meinen S´?“, kam es entgeistert und mit großen Augen.
Statt einer Antwort schloss ich die Tür, und der Ton war weg. Die Dame sah mich an, als hätte sie sich entschlossen, mit mir und nur mit mir ganz viele Kinder zu haben. Kopfschüttelnd drehte ich mich weg. Die Jüngere stand mir gegenüber und ihre Augen sagten: „Jesus Christus, Du mein Erlöser!“

Ich verschluckte ein kräftiges „Rindviecher!“, das mir partout aus dem Schlund hüpfen wollte, dann schaffte ich es gerade noch bis zu meinem Wagen, bevor ich so losprustete, dass mir die Tränen über die Wangen liefen.

Psychologisch allerdings war mir rätselhaft, was hier mit und in den beiden Frauen abgelaufen war: Offensichtlich waren beide in einer passiven Duldungshaltung erstarrt, die ihnen jede produktive Lösungsstrategie verwehrt hatte. Man kennt es von Menschen, die in einer traumatisierenden Erfahrung wie z.B. Unfall, Überfall oder Naturkatastrophe emotional so überlastet sind, dass sie ihre Handlungsfähigkeit einbüßen, schlicht weil der psychische Apparat blockiert. Das aber ließ sich hier beim besten Willen nicht behaupten. Auch der naheliegenden Versuchung, schlicht von „Dämlichkeit“ auszugehen, widerstand ich. Einem derartigen Fall von selbst inszenierter Wehrlosigkeit jedenfalls war ich noch nie begegnet: Dass man über einen vergleichsweise geringen äußeren Einfluss zwei Erwachsene Menschen dermaßen neutralisieren konnte.

Immerhin, in meiner Coachingpraxis begegne ich regelmäßig Menschen, die sich einer Arbeitssituation wehrlos ausgesetzt sehen und keinerlei Möglichkeiten finden, sich gegen Schikane, Mobbing, Anmaßung, Konflikte, etc. zur Wehr zu setzen. Dabei verlangt die heutige Arbeitswelt gnadenlose Selbstbehauptung.

Einen interessanten Erklärungsansatz für solch ein Verhalten bietet uns der amerikanischer Psychologe Martin E.P. Seligman in seinem 1967 entwickelten Konzept der „erlernten Hilflosigkeit“, ursprünglich gedacht zur Erklärung von Depressionen. Es beschreibt die Selbsteinschätzung eines Individuums, bestimmte Situationen oder Sachverhalte nicht kontrollieren und beeinflussen zu können und „allem, was kommt“ ausgeliefert zu sein. In der Folge engen die Betroffenen ihr Verhaltensrepertoire ein und können unangenehme Zustände nicht mehr abstellen, obwohl dies bei nüchterner Betrachtung durchaus möglich wäre. Der betroffene Mensch also erlebt einen Kontrollverlust, der ihn von der Realität abkoppelt. Eine derartige unbewusste – und resignative – Erwartung beeinflusst das Erleben und Verhalten des Betroffenen massiv und zieht  motivationalekognitive und emotionale Einbrüche nach sich: Nichts mehr geht, „lass die mit mir machen, was sie wollen.“ – Eine Verfassung, die ich durchaus als Endstadium von Arbeitskonflikten kenne, kurz bevor die Betroffenen kollabieren oder schwer erkranken. – Merke: Eine derartige Passivhaltung, die ja deutliche Züge von Selbstaufgabe trägt, ist IMMER auf frühe Erfahrungen von Hilf- und Machtlosigkeit zurückzuführen, die sich im Unbewussten verselbständigt haben.

Gelingt es, diese frühen Erfahrungen aufzudecken, werden in aller Regel die damit verbundenen Gefühle wiederbelebt und man stellt erstaunt fest, dass sie denen gleichen, die in der heutigen Arbeitssituation erlebt werden: Es sind ja auch dieselben, denn sie werden unbewusst reproduziert, so wie auch die reproduzierte Hilflosigkeit der Kindheitserfahrungen erst die heutige Konfliktlage ermöglicht. – Dies ist der erste und smassive Schritt zur Veränderung.

In Inning tanke ich immer noch, ab und zu. Es ist verdächtig ruhig im Kassenraum.

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