Über unerwartete Herausforderungen.

Manchmal steht man ja auf und ist sauer, ohne irgendeine Ahnung zu haben warum. Ich hatte einen verdammt schweren Kopf, als ich vor die Hütte trat, um zu erledigen, was man nach dem Aufstehen erledigt. Der Pullover wärmte mich zwar, doch der Eiswind pfiff mir ekelhaft um die nackten Beine in den Stiefeln und ließ die Schneeflocken an mir vorbeijagen wie eine Schwadron Geisterreiter. Der Eisfjord, über den man an guten Tagen mehr als dreißig Kilometer weit schauen konnte bis zum Ramfjell und De-Geer-Fjell auf der anderen Seite, war im weißen Nichts verschwunden, einem undurchdringlich wirbelnden Etwas, das zwei Meter vor den eigenen Augen zur Wand wurde. Es gab einem ein ungutes Gefühl, pinkelnd im Nichts zu stehen ohne sehen zu können, ob sich von irgendwoher ein Eisbär näherte.

Die schwarzgraue Wolkendecke hing so tief, dass man glaubte sie mit den Fingerspitzen berühren zu können, wenn man sich etwas streckte. Als ich nachts um zwei in meinen Schlafsack gekrochen war, hatte strahlender Sonnenschein aus einem blauen Himmel durch die dünnen Vorhänge gebrannt, so dass ich kaum die Augen zukriegte. Das Eis und die verschneiten Gipfel hatten mystisch aufgeleuchtet, denn durch den tiefen Stand der Nachtsonne im Norden erhöhte sich der Rot-Anteil des Lichts und streute eine Magie über das Land, derer nur arktische Sommernächte fähig sind. Doch der Arktis genügen manchmal Minuten, um das Wetter zu wechseln und die gesamte Szenerie auszutauschen wie eine Theaterkulisse. Wolken, Sturm, Schnee und Düsternis schieben sich dann von einem Moment auf den anderen in den Lichterrausch wie eine Horde Schläger in eine Hochzeitsgesellschaft. Entsprechend auf und ab rauschte einem der Kreislauf, und an Tagen wie diesem maulte er ziemlich herum, so dass man einfach nur mieser Stimmung war.

Wie jeden Morgen – wobei dies beim viermonatigen arktischen Sommertag ein sehr dehnbarer Begriff ist – musste ich erst mal die Bude warm kriegen. Ich stieg in meine Jeans und warf zwei Schaufeln Kohle in das Ofenloch. Dann holte ich aus dem winzigen Vorbau den weißen Plastikcontainer mit dem Kerosin und schüttete eine Kohlenschaufel davon darüber. Die moderne Art in einer arktischen Hütte Feuer zu machen folgt dem bewährten Prinzip: Zwei Schaufeln Kohle, eine Schaufel Kerosin, ein Streichholz und dann gaaaaanz schnell die Hand wegziehen! Das Kerosin brüllte los und sandte eine Stichflamme aus dem Ofenloch, das ich schnell verschloss. Schneller jedenfalls kann man Kohle nicht zum Brennen bringen, und ich griff mir Eier, Salami und die alte Bratpfanne, um mir mein Frühstück zu machen.

Danach arbeitete ich mich in meine Ausrüstung hinein, um loszufahren. Meine Waffe war wie jede Nacht direkt neben meinem Kopfkissen gelegen, so dass man sie reflexhaft greifen konnte. Auch wenn Attacken in Hütten eher selten waren, – ich hatte zu viele Geschichten gehört von Leuten, die an Kopf oder Beinen aus ihrem Zelt gezogen und ziemlich übel zugerichtet worden waren. Und ich hatte in meinem Leben gelernt, dass es nichts Schlimmeres gibt als kalt erwischt zu werden. So setzte ich mir den Helm auf, klappte das Visier herunter und startete meinen Motorschlitten. Erfreut registrierte ich, dass er sofort ansprang. Manchmal, wenn es stunden- und tagelang so wehte, blies es einem den Luftfilter voller Schnee, und dann durfte man den erst mal ausbauen und reinigen, bevor man die Maschine ankriegte.

Ich wollte hinunter auf den Adventfjord und dann nach Longyearbyen – damals noch eine

Grubensiedlung am Ende der Welt -, um von dort aus eine Journalistin anzurufen, der ich ein paar Reiseinformationen versprochen hatte. Anschließend, so hatte ich mir vorgenommen, würde ich alleine den Adventfjord überqueren und bei den Hütten am Ostufer nordwestlich drehen, die Küstenlinie entlang bis zum Hanaskogdalen. Östlich ein paar Kilometer in das Tal hinein und dann zur Linken hinauf auf den Carolinefjell. – Alleine eine nicht ganz ungefährliche Angelegenheit, aber Tor hatte mich vor zwei Jahren mal dort mit hinauf genommen, und als wir die Maschinen auf dem neunhundert Meter hohen Gipfel abgestellt hatten, konnten wir das arktische Schweigen so intensiv hören wie selten. Nach ein-zwei Minuten, als die Ohren sich an die Stille gewöhnt hatten, hörte ich ein ganz, ganz feines, seltsam durchsichtiges Geräusch, das überall in der Luft lag: Das Sirren der Schneekristalle, deren Eigenvibration sich unter die Stille legte ohne diese zu zerstören. – Einer der Momente in dieser Landschaft, die man als heilig empfindet.

Ich hielt nordöstlich, die Küstenlinie entlang, und irgendwo zwischen Ermakstotta und der Hotelspitze, wo Ende des 19. Jahrhunderts Spitzbergens erstes Hotel gestanden hatte, rauschte ich hinunter auf das Packeis des Adventfjords. Um diese Jahreszeit war es bis zu einem Meter dick, man hätte notfalls mit einem Lastwagen darüber fahren können. Vor mir wirbelten riesige Schneeflocken, – Leintücher nannte man sie -, durch die man nur wenige Meter Fahrtstrecke vor sich erkannte. Das Wetter drückte mir richtig schwer auf den Kopf, ich hatte das Gefühl mich zu bewegen wie eine Echse. Aber Gott sei Dank kannte ich die Strecke gut, ich war sie oft gefahren. So hielt ich auf der Mitte der Eisdecke südöstlich in den Fjord hinein. Durch das Flockengewirbel tauchte für ein-zwei Sekunden die neue „Kraftstasjon“ auf, die die AEG hier gebaut hatte. Der leitende Ingenieur war ein verrückter Hund aus Fürth gewesen, der mir ein Jahr später eine Karte aus Surabaya geschrieben hatte: Hier gebe es alles, was es auf Spitzbergen nicht gebe. – Nun ja, professionelle Liebesdamen auf Spitzbergen waren tatsächlich ein absolutes No-Go. Mit Ausnahme von Kari, einer Krankenpflegerin, die sich trotz ihrer spärlichen Reize bei den Grubenarbeitern ein beachtliches Nebeneinkommen erwirtschaftet hatte. – Jedenfalls so lange, bis zwei gimpelnde Rivalen ihretwegen eine wüste Schlägerei begannen und der bis dahin ahnungslose Gouverneur sie von der Insel schmiss.

Das leuchtende Ocker zweier halbrunder Werkstatthallen am Ufer anderthalb Kilometer vor mir bot mir einen kurzen Orientierungspunkt im Durcheinander der Flocken. Ich drehte südlich und hielt rechtwinklig auf das Ufer zu. Notgedrungen fuhr ich nicht ganz so schnell wie sonst, man wusste ja nie, ob hier in Siedlungsnähe irgendein Balken auf dem Eis herumlag oder ob sich unter dem Winddruck eine Eiskante aufgestellt hatte, auf die man dann hinaufgeknallt wäre wie ein Motorradfahrer auf einen Rinnstein. – Seit mir drei Jahre zuvor nach solch einem Erlebnis die Russen mein Kinn wieder zusammengenäht hatten, war ich da etwas vorsichtiger geworden.

Die menschliche Wahrnehmung ist ein Produkt der Evolution. Sie ist darauf geeicht, verletzte Erwartungskonformität zu melden: Was abweicht vom Normalen und Vertrauten, das fällt auf. Als ich drei Jahre zuvor mit zwei KGB-Offizieren auf dem Billefjord unterwegs war, erspähten sie weit draußen eine Robbe vor ihrem Eisloch, schon verdammt nahe am offenen Wasser. Sie bestanden mit unnachgiebiger Herzlichkeit darauf, dass ich als ihr Gast sie nun zu schießen hätte und drückten mir ihre tschechische Repetierbüchse in die Hand. Um besser zielen zu können, legte ich die Waffe auf die Lenkergabel meines Scooters, doch da diese wegen des laufenden Motors vibrierte, vibrierte auch der Lauf, und ich schaltete mit der Linken die Maschine aus. Blitzartig verschwand die Robbe in ihrem Eisloch. „You see,“ meinte Nikolai, „change of situation!“

Solange die Motoren liefen, war alles ok gewesen für das Tier. Doch als die Maschinen ausgingen, wurde es ihm zu brenzlig, und das weiß Gott nicht zu Unrecht. – Plötzliche Abweichung vom Normalen kann in der Arktis bedeuten: Gefahr oder Fressfeind. In beiden Fällen geht es um Sekunden.

Die Flockenwand schien durchsichtiger zu werden, aber vielleicht lag es auch an den Umrissen der beiden Hallen und einer großen grauen Metallhalle daneben, die sich aus dem Gewirbel schoben. Oder es lag einfach an der Wahrnehmung, dass Festland und Siedlung – und damit Menschen und Zivilisation – begonnen hatten aus dem weißen Nichts hervorzukriechen.

Entschlossen gab ich Vollgas, um die letzten sechs-siebenhundert Meter hinter mich zu bringen. Ich hatte ordentlich Speed, als mich aus dem rechten Augenwinkel heraus drei winzige Köpfchen irritierten. Es waren kleine, gefiederte Köpfchen, und sie drehten sich nach mir um. Dabei glitten sie eng nebeneinander nach rechts davon. Als wollten sie mir Platz machen.
„Scheiße, Scheiße, schwimmen!“ schoss es mir durch den Kopf. Eigenartig, wie ein Gehirn in solch einer Situation reagiert. Doch für die wenigen Sekunden, die mir noch blieben, war jedenfalls klar, dass hier jemand auf dem Eis schwamm, und das war ein Widerspruch in sich.

Ich saß völlig erstarrt. Eingefroren, perplex und ratlos, wieso sich an dieser unmöglichsten aller Stellen ein kreisrundes Eisloch auftat. Das hier absolut nicht hingehörte. Und auf das ich mit über siebzig Stundenkilometern zuraste. Die drei kleinen Köpfchen gehörten drei kleinen Seemöwen. Sie wirkten besorgt, denn sie paddelten schneller, um so weit wie möglich von mir wegzukommen. Plötzlich schien es, als hätte das Schneetreiben ausgesetzt. Ich blickte auf eine Wasserfläche so klar und dunkel und kräuselig, wie eine Wasserfläche im schlechtesten aller Fälle eben sein konnte. Sie maß vier-fünf Meter im Durchmesser, und sie war ziemlich schnell, denn sie kam auf mich zugerast, und an den Rändern war das Eis schwarz und vom Spritzwasser angefeuchtet. Ich schaffte es nicht, mich zu bewegen. Nur diese drei verdammten Köpfe starrten mich an.

In diesen Momenten dehnt die Zeit sich wie ein Gummiband, während sie gleichzeitig stehen bleibt. Vielleicht hat es damit zu tun, dass die Schockstarre einen in den Zustand völliger Hilflosigkeit versetzt und man diesen als quälend lang empfindet, weil an seinem Ende der Untergang steht. Leif Steinar Nilssen hatte es so auf dem Van-Mijen-Fjord erwischt. Ein anderes Pärchen, das ich flüchtig kannte, im Nebel auf der Nordseite des Tempelfjordes. Jetzt also ich. Scheiße, Mensch… Entsetzen immobilisiert. Der Zustand ist die Hölle.

Irgendetwas in mir bäumte sich im allerletzten Moment auf. Es gelang mir, den Lenker minimal nach links zu drehen, mehr brachte ich einfach nicht zusammen. Mit Wahnsinnsgeschwindigkeit raste das Loch an mir vorbei, während ich in alle Richtungen gleichzeitig zu sehen schien: Rechts neben mir die Wasserfläche und die Seemöwen, die sich an den gegenüberliegenden Rand drängten. Unter mir das schwarze Eis, durch das das Wasser hungrig hindurchleuchtete, während es schon von der rechten Kufe emporspritzte, die zur Hälfte über den Eisrand hinausragte. Es machte ein unglaublich hässliches „Schurrrr!“, das ich nie wieder vergessen werde. Links von mir irgendetwas, vor mir auch irgendetwas. Dann war es schon wieder vorbei.

Meine Erstarrung löste sich schlagartig. Ich ließ den Lenker los und schlug die Hände vors Gesicht. Da ich somit auch den Gashebel losließ, rollte die Maschine aus und blieb stehen, keine zehn Meter vom Loch entfernt. Das Eis war wieder einen Meter dick. Man hätte wieder mit einem Lastwagen darüber fahren können. Ich beugte mich links hinaus und reiherte auf das Eis. Als ich zurückblickte, schwammen die kleinen Seemöwen wieder in der Mitte des Lochs.

Es sind Momente, in denen man erfährt, was die Einsamkeit der Arktis bedeutet: Du schäumst buchstäblich über, möchtest jemanden an den Schultern packen und hinausschreien, was dir gerade widerfahren ist, doch da ist niemand. Vielleicht hätte ich einfach in eine der Werkstatthallen gehen sollen. Dort hätten sie mir wahrscheinlich einen Kaffee spendiert und mir mit norwegischer Ungerührtheit erklärt: „It´s part of the game, up here.“ Ich riss mich zusammen und fuhr alleine weiter. – Später erzählte Kjell mir, es sei nur das Abwasserrohr des alten Kraftwerks gewesen.

In Gefahren- und Stresssituationen, so schreibt es Wikipedia, wird vom Nebennierenmark Adrenalin ausgeschüttet. Es erhöht den Herzschlag (Tachykardie), um den Körper auf Kampf oder Flucht vorzubereiten. Eine Reihe nicht benötigter Organe sowie Teile des Gehirns werden in ihrer Funktion heruntergefahren. Erfolgen weder Kampf noch Flucht, so tritt eine Angststarre ein, der zufolge das bedrohte Lebewesen weder fliehen noch kämpfen kann. Der Herzschlag sinkt (Bradykardie), die Muskeln versteifen sich und die Kontrolle über die Körperfunktionen fällt aus. Angststarre und Bradykardie werden durch Nervenimpulse ausgelöst. Sie sollen in Gefahrensituationen das Überleben sichern.

Jedenfalls theoretisch. Meine Sympathie für Seemöwen ist mir geblieben.

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