Über Job und Tic.

 Über Job und Tic.

Es gibt Feedback-Schleifen, die sind richtig menschenfeindlich. Lars, der junge Mann vor mir, ist Anfang dreißig und sehr konservativ gekleidet. Insgesamt wirkt er recht unsicher, was sich unter anderem daran zeigt, dass er mich nach jedem Satz fragend anblickt, offenbar Bestätigung suchend: Stimmst du mir zu oder weist du mich (wieder einmal) zurecht? Auffallend sind die unentwegt in Bewegung befindlichen Finger, die fortwährend aneinander reiben, an den Oberschenkeln, auf der Innenseite der Unterarme oder auch einmal an der Kehle. Immer in Bewegung, immer auf Wanderung, immer auf Suche. Das kann ein Hinweis auf eine frühkindliche Traumatisierung sein.

Überhaupt ist Wachsamkeit angebracht bei Menschen, die stets so seltsam verhalten wirken, – in Mimik, Stimme, Körper und Sprache. Sie haben unbewusst und meist schon sehr früh eine Art Haltegerüst gegen heftige innere Bewegungen aufgebaut, die ins Unbewusste weggedrückt wurden und dort nach Kräften randalieren. Man kann es sich ruhig so vorstellen, als würde man den stetigen Ausfluss einer Quelle in eine Art dehnbaren Weinschlauch umleiten. Je mehr Zufluss desto mehr steigt der Druck. Bis das Gefäß irgendwann und irgendwo beginnt sich auszubeulen: als kleines Bläschen, als große Blase, als plötzlich überall sickernde Gewebedurchlässigkeit oder mit Explosionsknall. – Vielleicht kann man so den Mechanismus der Symptombildung erklären, wenn Unverarbeitetes zum Überdruck führt und der psychische Apparat beginnt an seinen schwächsten Stellen nachzugeben.

„Ich fühle mich so richtig hilflos.“, sagt Lars. Gekommen ist er übrigens wegen eines Problems mit den Kollegen.
„Und ich kann einfach nicht noch mehr einstecken. Ich kann nicht. Ich bin am Ende.“
Das sagt er ruhig und ausdruckslos. – Wäre da nicht das heftige, krampfartige Augenzwinkern beidseitig. So heftig, dass selbst noch die obere Nasenregion ruckartig nach oben schießt. Drei-vier-fünf-mal. Und das macht ihn im Job zum Faktotum, an dem Jeder sich abreagieren darf.

Kollegen sind ja nicht immer die Blüte des menschlichen Charakters.  Manchmal suchen sie sich einen aus und picken ihn fast zu Tode. Meist sind es dann Menschen mit einer nicht verstandenen Verhaltensauffälligkeit, die zum Opfer werden, indem man sich gnadenlos über sie lustig macht, sie dumm anmacht, ihnen dreiste Streiche spielt und ihnen jede Schwäche und jeden Fehler als „mal wieder typisch“ doppelt anrechnet. Ein uralter Totbeiß-Reflex aus dem Stammhirn: Was nicht die gleichen Merkmale trägt wie wir, gehört nicht zum Schwarm und muss vertrieben werden. Die Betroffenen sind meist besonders sensibel und sehr verzweifelt, da sie um ihre Auffälligkeit wissen, aber keine Ahnung haben, wie sie herauskommen sollen. Vorgesetzte schauen weg anstatt ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Ein Teufelskreis, der immer wieder einmal zu massiven Aggressionsdurchbrüchen führt, wenn der/die Betroffene es einfach nicht mehr aushält. – Nur nebenbei bemerkt: Das Entsetzen über jugendliche Amokläufer ist groß. Die Frage, was einen jungen Menschen in einen derart mörderischen Hass getrieben hat, wurde bisher nicht gestellt.

In meiner Volksschulklasse hatten wir einen Lehrer, der ebenfalls eine derartige „Macke“ aufwies: Jedes Mal, wenn er uns Kinder zusammenstauchte, geriet er in eine anwachsende Rage, und ab dem Mittelteil seiner Predigt warf er immer wieder den Kopf ruckartig nach rechts oben, wobei er die Lippen so krampfhaft verzerrte, dass ihnen ein bizarr-grunzendes „Horrrrf-quarrrr!“ entfuhr, an dessen Ende sein Kinn kurz nach links zuckte und dann in Normalposition zurückkehrte. Außerhalb der Schule hatten wir große Freude ihn nachzumachen. Tatsache war aber auch, dass nach der Nazidiktatur und dem Weltkrieg jede Menge Leute mit solchen Störungen herumliefen. Kein Wunder, nach den Kriegswirren, den alliierten Bombenteppichen und allen anderen Atrozitäten der braunen Periode.

Um was also handelt es sich? Andere Diagnosen vorsorglich ausgeschlossen, werden diese Störungen in der Fachliteratur leicht verniedlichend als „Tics“ bezeichnet, definiert als „unwillkürliche, nicht zweckgebundene Bewegungen und/oder Lautäußerungen von Menschen.“ Auf Deutsch: unvorhergesehen, spontan, sinnlos. Man unterscheidet zwischen motorischen und vokalen Tics. Motorische Tics sind abrupt einsetzende und mitunter sehr heftige Bewegungen, die unwillkürlich ablaufen und nicht zweckgebunden sind. Die Bewegungen verlaufen ritualhaft in immer gleicher Weise, sind dabei aber nicht rhythmisch. Sie können einzeln oder in Serie auftreten: Stirnrunzeln, Augenblinzeln, ruckartige Kopfbewegungen, Hochziehen der Augenbrauen, abruptes Schulterzucken, Nase hochziehen und Grimassieren sind die Hauptvertreter dieser für die Betroffenen oft unerträglichen Störung, die ihnen das Leben zur Hölle macht. Als vokale Tics hingegen bezeichnet man Äußerungen von Lauten und Geräuschen, z.B. Räuspern, Schniefen, Grunzen, Quieken, Zungenschnalzen, bisweilen auch lautes Schreien. Eine besonders extreme Form sind die sogenannte „Koprolalie“ (Hervorstoßen ordinärer und obszöner Worte) und die „Echolalie“ (Nachsprechen oder Nachäffen gehörter Worte oder Laute).

Interessant ist, dass es eine überzeugende Ursachenerklärung bis heute noch nicht gibt: Man vermutet zwar eine ererbte Störung in den Basalganglien, doch – so sagt der Bayer – „Nix G´wiss woaß ma´ net.“ Fakt ist allerdings auch, dass die Psychoanalytiker eine starke psychische Komponente sehen und teilweise erfolgreich therapieren: Der „Tic“ also als Problem der psychischen Selbstorganisation? Wichtig ist, dass man Tic-Persönlichkeiten nicht als isoliertes medizinisches – und damit vorwiegend mechanisches – Problem betrachten darf. Die Persönlichkeit der Träger zeigt meist starke Beschränkungs-, Hemmungs- oder Verängstigungszüge. Hilft man ihnen, aus ihrem inneren Gefängnis herauszukommen, wird die Symptomatik in vielen Fällen rückläufig. Und am Ende hat Recht, wer hilft.

Not tut jedenfalls ein realistischer Blick auf die Gesamtsituation: Für Lars konnte das nur bedeuten, dass er an seinem Problem arbeiten musste, um die Zusammenhänge aufzudecken, und dass er seine Arbeitsumgebung vergessen konnte, um sich lieber etwas Neues zu suchen, wo er ohne – oder mit wenigstens deutlich verminderter – Symptomatik neu anfangen konnte. Bisweilen allerdings fragt man sich auch, wie Eltern eigentlich Liebe definieren: Lars´ Eltern jedenfalls schienen stark geprägt von eigenen Schuldängsten und einer nur schwer nachvollziehbaren, vorwiegend religiös motivierten Verzichtsethik, mittels derer sie offenbar eigene Kindheitserfahrungen weitergaben: Wann immer der kleine Lars einen Wunsch geäußert hatte, führte die Bigotterie der Eltern dazu, dass das von ihm Begehrte als „Werk des Teufels“ diskreditiert wurde. Damit konnten ihm die Eltern die Wunscherfüllung verweigern, scheinbar ohne sich selbst zu belasten, denn gegen den Teufel zu sein ist bekanntlich gottgefällig. Dass einem kleinen Jungen damit fortwährend die Nähe zum Teufel und seelische Verderbtheit attestiert wurden, schien vor der selbstgerechten Fassade der beiden Frömmler nicht zu interessieren. Lars, den die spitzzüngigen Verurteilungen und Verächtlichmachungen tief verunsichert hatten, hatte sich schon als Kind eng zusammengeschnürt: Funktionieren ohne auffällig zu werden und keinesfalls etwas fordern. Nur funktionierte es nicht. Seine Seele signalisierte über das Mittel der Symptombildung, wie elend sie sich fühlte. Und so ergab sich schrittweise der Zusammenhang: Immer wenn Lars etwas haben wollte, wurde der eingehämmerte innere Zensor so massiv, dass Lars wie wild zwinkerte. – Eine Blasenbildung unter massivstem innerem Druck.

Das Symptom als Konfliktentlastung: Lars hatte nie gelernt, gegen die autoritäre Anmaßung der Eltern aufzustehen und sich selbst als eigenständige Persönlichkeit zu definieren statt als Annex des elterlichen Angst- und Schuldszenarios. Es bedurfte, da er die Beiden für sich streng tabuisiert hatte, einiger Arbeit, diese Zusammenhänge aufzudecken. Doch es gelang, und Lars fand erstmalig Zugang zu einem freieren Leben, in dem er und seine Bedürfnisse etwas zählten, und so konnte er auf die Symptombildung verzichten. „Unspezifische, chronisch emotionale Belastungen (gekoppelt mit Unterdrückung aggressiver Strebungen)… werden ätiologisch für das Entstehen der Tic-Krankheiten verantwortlich gemacht.“ (Bürgin und Rost)
Der Mensch ist mehr als nur Maschine. Viel mehr. Unendlich mehr.

 

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