„Tschulligung, ich muss mal.“, sagt Gerrit, ein erfahrener Projektmanager, keine zehn Minuten nach Gesprächsbeginn.
„Kein Problem.“
„Konfirmandenblase!“, lacht er hölzern, als er sich wieder setzt.
Überhaupt gibt er sich sehr jovial. Es hat etwas Eingezwängtes an sich, dieses aufdringliche Dauerlachen in der Stimme. Wortreich stellt Gerrit das Problem, weswegen er um den Termin gebeten hat, als etwas Beiläufiges, fast Banales dar: Eine laufende Nase halt, oder ein eingewachsener Zehennagel, nichts Ernstes jedenfalls, und ich frage mich mehr und mehr, was die Realität hinter der Inszenierung ist.
„Eigentlich geht´s mir ja gut. Ich hab da nur diese Sache da und möchte, dass Sie mir helfen, das in den Griff zu kriegen.“, ist eine der Standardaussagen der Selbstverleugnung. Paar hundert Mal gehört, inzwischen. Das Glaubensbekenntnis der Dynamiker vor dem Dynamikverlust.
„Ich geh da lieber proaktiv ran, das werden gerade Sie ja zu allererst verstehen!“ Traps, traps, traps…. sagt die Nachtigall.
In unserer zweistündigen Sitzung muss der Konfirmand noch dreimal.
„Haben Sie´s mal checken lassen?“
„Ich war beim Hausarzt, der meint, es wär´ der Stress. Er hat mir so ein Kürbispräparat aufgeschrieben, aber da merk ich kaum nen Unterschied.“
Und so ist eigentlich alles in bester Ordnung: In der Firma gibt es sehr viel Druck, „aber das sitz ich auf einer Backe ab!“ Privat ist der Verlust von Gerrits Eltern zu verzeichnen, die im letzten Jahr kurz nacheinander verstorben sind. „Nun ja, so ist nun mal das Leben.“ Und in der Ehe ist auch nach fünfundzwanzig Jahren „alles bestens“. Das Haus fast abbezahlt, die Kinder aus dem Haus, die Routine übermächtig, der Hund anhänglich, wenngleich in letzter Zeit etwas alt geworden. Und der anstehende Urlaub führt wie seit zehn Jahren schon nach Kroatien, „denn da weiß man, was man hat.“
Gekommen ist der Klient übrigens, weil ein Konflikt mit Kollegen ihm so zusetzt, dass er seit längerer Zeit schlecht schläft und sich dauernd müde fühlt. Als Mitverursacher seiner Beschwerden betrachtet er einen Vorgesetzten, der ihm hier die Unterstützung verweigert und ihn „unter Druck setzt und mich aus dem Laden raus haben will.“ Doch auch hartnäckiges Nachfragen ergibt keine belastbaren Anhaltspunkte für das unterstellte Mobbing des Chefs. Er ist halt einfach da und verlangt Leistung. Und wird, ohne es zu wissen, zum ersten wichtigen Anhaltspunkt: Es werden Ängste und Aggression auf ihn projiziert. Was den Rückschluss zulässt, dass der Klient unter massiven Ängsten leidet, die er aus noch nicht bekannten Gründen auf jemand anderen verschiebt.
Wichtig ist, dass der Coach ein waches Auge hat für die wechselseitige Beziehung zu seinem Klienten: Öffnet dieser sich und entwickelt Vertrauen? Blockiert er unbewusst und versucht den Coach in die Irre zu führen, indem er Belanglosigkeiten berichtet oder Dauermonologe führt? Oszilliert er zwischen Öffnung und Blockade, zwischen Nähe und Distanz? Nicht selten nimmt die unbewusste Blockade eine eigenartige Form an: Die Probleme werden präzise beschrieben und es wird theoretisiert auf Teufel komm raus, wobei alle zugehörigen Gefühle ausgespart werden, und am Ende bestätigt sich das Wort des Freud-Schülers Otto Fenichel von der „Flucht in die Macht der Gedanken“.
Eine organische Erkrankung also lässt sich nicht feststellen. Das sollte den Klienten erleichtern, doch lässt es ihn ratlos: Nach anfänglichem Zögern beschreibt er, dass er während seiner nächtlichen Wachperioden einen engen Reif um seine Brust spürt. Tagsüber fühlt er neben häufigen Kopfschmerzen oft ein Brennen in der linken Brustseite und „Herzstolperer“, die ihm Sorgen machen. Sein Gefühl von Schlaffheit verbindet sich nicht selten mit Gliederschmerzen.
Stavros Mentzos, der legendäre Hysterieforscher, schrieb einmal, die Hysterie sei eine Meisterin darin, jedes denkbare organische Krankheitsbild so perfekt zu imitieren, dass bisweilen sogar erfahrene Kliniker darauf hereinfielen. Ähnlich geht es bei einem anderen Krankheitsbild, der sogenannten „larvierten“ Depression: Während das Bild einer „normalen“ Depression vorwiegend von Niedergeschlagenheit, Resignation, Hoffnungslosigkeit, Untergangsvisionen und einem Gefühl allgemeiner Wertlosigkeit bestimmt wird und mit Apathie oder sogar völliger Erstarrung (depressiver Stupor) einhergeht, setzt die larvierte Depression eine Maske (lat.: larva) auf. Nicht selten sind die Betroffenen agitiert bis überagitiert, bisweilen auch ningelig und reizbar, schnell explodierend und erkennbar mit sich selbst im Unreinen.
„Der ist ziemlich komisch geworden!“ ist oft die Reaktion einer verstörten Umwelt. Man wird nicht fehl darin gehen, den übersteigerten Aktivismus der Betroffenen als verzweifeltes Anrennen gegen ihre tief deprimierte Stimmung zu interpretieren. Und so sucht sich die beiseitegeschobene Depression – die nach neueren Untersuchungen mit Hirnfunktionsstörungen korreliert – ihren Weg über einen anderen Auslass: den Körper. „Ein depressives Zustandsbild, das sich hinter der Maske körperlicher Beschwerden verbirgt.“ (Faust)
Dazu gehören auch Rückenbeschwerden, Magen-Darm- und Unterleibsprobleme und nicht zuletzt Libidoverlust und Verlust der sexuellen Appetenz. – Während also Kliniker bisweilen nach Diagnosen suchen – nicht zuletzt: Fibromyalgie – ist es letztlich nur die ins Pathologische entgleiste Trauer, die das Gesamtsystem Mensch so sehr vergiftet, dass sein Körper außer Tritt gerät. Die Larve, sie wird oft nicht erkannt, und selbst die Fachliteratur stellt resigniert fest: „Im Grunde ist die Diagnose einer larvierten Depression nur rückblickend möglich.“ (Faust/Hole/Wolfersdorf)
Was also ist die Ursache seiner Trauer? Gerrit mauert, wird auffallend weitschweifig und zieht sich darauf zurück, dass „eigentlich ja alles bestens“ sei. Die Trauer um die Eltern scheint nicht das Problem zu sein. Sie wird zugelassen, zugleich aber relativiert durch die längere Krankheitsphase der beiden, die eine innere Vorbereitung auf ihren Abschied ermöglichte. So verschwindet Gerrit für drei Wochen in Urlaub, mit Gattin nach Kroatien, wie stets. Als er zurückkommt, ist er verändert: Zwischen beiden hat es ordentlich gekracht.
„Ich finde letztlich schon lange nicht mehr statt in dieser Ehe.“, wird er plötzlich leise. „Familie, Kinder, Enkelkinder, – diese Frau ist nur noch ein einziges Gesäuge!“ Die Entfremdung scheint mit Händen zu greifen. Nähe oder Körperkontakt, nichts mehr, wie es einmal war. Der aufgestaute Frust brach sich Bahn an der Adriaküste. „Der Urlaub war für´n Arsch!“ Zum ersten Mal sehe ich den Klienten am ganzen Körper zittern.
Die schwelende und verdrängte Ehekrise, so zeigte es sich, hatte Gerrit schon lange heruntergezogen. Sein Aufwind hieß Hella, eine elf Jahre jüngere Kollegin aus der Rechtsabteilung, deren Ehe ebenfalls in den Seilen hing und die alles verkörperte, was er sich an einer Frau wünschte. Gerrit hatte stürmische und leidenschaftliche Monate mit ihr erlebt, die ihn dazu brachten, ihr die Scheidung von seiner Frau anzubieten. Hella hatte ihm das Gleiche versprochen, und Gerrits ganze Hoffnungen hatten sich auf die gemeinsame Zukunft gerichtet. Doch Hellas Aussprache mit dem Ehemann, dem sie ihre Scheidungsabsicht mitteilte, kippte unerwartet und wurde zum großen Versöhnungsgespräch und zur Verständigung auf eine zweite Chance füreinander. Gerrit, der sie nicht nur geliebt, sondern auch seine eigenen Erlösungssehnsüchte mit ihr verbunden hatte, stand vor der Zerstörung seiner Träume.
Er gestand, seine stark konservativen Eltern hätten ihm zu Lebzeiten eine Scheidung niemals verziehen, so dass er den anwachsenden Widerwillen gegen seine Ehe jahrelang verdrängt hatte. Gerrit, der mit niemandem über all diese Ereignisse sprechen konnte, war nach Hellas Wortbruch in ein abgrundtiefes Loch gefallen, während er nach außen seine Larve getragen und sich gezwungen hatte, mitten im endlosen Fall zu funktionieren, als wäre nichts. – Nicht gerade einfach, da er Hella mehrmals täglich über den Weg lief und dienstlich viel mit ihr zu kommunizieren hatte. Die unter solchen Umständen fast zwangsläufige Depression, die er aus Gründen seines privaten Selbstschutzes, aber auch aus Angst vor den betrieblichen Folgen nicht zulassen wollte, hatte sich auf bizarre Weise ihren Weg nach draußen gesucht. Nach weiteren gemeinsamen Gesprächen und zunehmenden ehelichen Auseinandersetzungen verständigte er sich auf die eheliche Trennung. Hella, deren Ehemann ins Ausland versetzt wurde, verließ die Firma. Gerrit trauerte ihr lange nach, doch wenigstens trauerte er jetzt. Und arbeitete sich damit heraus aus dem, was Schauenburg als „die Endstrecke verschiedener biographischer, lerngeschichtlicher und konflikthafter, gelegentlich auch somatischer Prozesse“ bezeichnet.
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