„Ich hab keine Erinnerung an meine Kindheit.“, sagt Sandy und dreht ihre Kaffeetasse zwischen den Fingern. „Echt nicht, bis ich so zehn bin, dann fängt es langsam an.“ Abkapselung? Hmmm, hmmm, hmmm…. Sandy hat ein paar Arbeiten für mich erledigt, mit größter Hingabe, und nun sitzen wir und quatschen zum Abschluss ein bisschen. Aber, so scheint es, etwas drängt heraus aus ihr.
„Was war vorher?“
„Keine Ahnung.“
„Irgendwas? Vater? Mutter?“
„Naja, mein Vater war abgehauen, als ich drei war, und hat sich nie um mich gekümmert. Und Mama hat dann nur noch schlecht von ihm geredet und danach gar nicht mehr. Aber mein Stiefvater war ganz okay.“
Sagt Sandy, die mir gerade erzählt hat, dass sie mit achtzehn Jahren in einem Sexclub gelandet ist und dort drei Jahre als Prostituierte arbeitete. „Der Typ, mit dem ich damals zusammen war, der hat gesagt, er liebt mich. Deswegen bin ich da reingeraten.“
Ich kann es mir vorstellen. Die zierliche Sandy wirkt warm, liebevoll, aufopferungsbereit, auf eine naive Art treu, – eine junge Frau, die nach Zuneigung hungert, sie nie bekommen hat und niemals ein Gefühl für den eigenen Wert entwickeln konnte.
„Wolltest du nie aussteigen?“
„Das wollt ich dauernd. Aber er hat gesagt: Nur noch paar Monate, Liebling, dann sind wir aus dem Gröbsten raus.“
„Wir?“
„Nuja… er hatte Schulden in der Szene, irgendwelche Dealereien, die schief gelaufen waren. Er hat gesagt, wenn er die nicht bezahlt kriegt, legen die ihn um. Und ich wollt´ ja unbedingt zu ihm halten, er hat mich ja geliebt.“
Schließlich, als sie es nicht mehr ertrug, haute sie einfach aus dem Club ab, in einer Pause zwischen zwei Kunden. Ohne einen Euro in der Tasche und ohne eigene Wohnung. Sie verkroch sich bei einem älteren Bekannten, einem früheren Kunden, dem sie dafür den Haushalt führte und zu Willen war. „Der hat mich wenigstens nicht geschlagen.“ Später heiratete sie einen Halbwelttypen, der ohne ihr Wissen ihre Nacktfotos auf seine Website stellte und sie jeden zweiten Sonntagnachmittag für vier Stunden aus dem Haus schickte, damit er seine Internet-Bekanntschaften vernaschen konnte.
„Wie bitte? In Eurem Bett?“
„Nee, natürlich nicht. Nur auf der Wohnzimmercouch, da haben wir uns drauf geeinigt.“
„Feiner Zug von ihm, sehr einfühlsam.“
Aber Sandy machte immer alles mit: Von frühester Kindheit an hatte sie gelernt, dass über sie verfügt wurde und dass ihre bedingungslose Gefügigkeit der Preis war, mit dem sie sich „Liebe“ gefälligst zu erwirtschaften hatte. Am Ende nichts anderes als ein Benutzungs- und Missbrauchsverhältnis.
Und über allem stand der Leitsatz: Mir steht nichts zu, ich habe nichts zu fordern und dankbar zu sein für die abgenagten Knochen, die man mir hinwirft. – Man sollte niemals unterschätzen, welche tiefen Ängste der abrupte und damit unverarbeitete Verlust eines Elternteils für ein Kind bedeutet: Wenn der andere Teil auch noch geht, dann bin ich ganz alleine. – Für ein Kind bedeutet das im archaischen Sinne Lebensgefahr, die schon im frühen Alter sehr genau verstanden und empfunden wird. Also unterwirft Sandy sich der herrischen Mutter bedingungslos, die ihr Kind als unappetitliches Überbleibsel aus der ersten Ehe mitschleppt. Und Sandy kapselt im Unbewussten ab, was sie bewusst nicht mehr erleben darf: glückliche Zeiten mit ihrem Daddy, der zur Unperson geworden ist, und offenbar auch die anschließenden Jahre von Vereinsamung und seelischem Absturz.
Immer wieder einmal meldet sie sich, mal telefonisch, mal auf eine Tasse Kaffee. Es tut ihr gut, ernstgenommen und geachtet zu werden. „Ich bin am Ende doch nur ne kleine Nutte.“ – Sagt eine treue Seele, die im Zweifel ihr letztes Hemd hergeben würde.
Unsere Gespräche zeigen einen unerwarteten Effekt: Sandy, mit sich ringend und psychisch stark angeschlagen, beschließt sich nicht länger entwürdigen zu lassen und beantragt die Scheidung. Daraufhin macht der Noch-Gatte mich ausfindig und schickt mir ein paar Drohungen. Ich mache ihm klar, worauf er sich einlässt, und dann gibt er ganz schnell Ruhe.
„Hast du nix anderes zu tun, als dich wegen einer kleinen Nutte in Schwierigkeiten zu bringen?“, fragt mich ein Bekannter, dem ich davon erzähle.
„Ich seh keine Nutte´“, sage ich, „sondern eine wertvolle junge Frau, mit der immer nur alle Schlitten gefahren sind.“
Meine dringende Empfehlung, sich in eine langfristige Therapie zu begeben, erledigt Sandy auf die ihr eigene chaotische Art: Sie geht dreimal hin und haut dann wieder ab. Es würde ja ans Eingemachte gehen. Lieber sammelt sie mehrere Niederlagen in Einzelhandels-Jobs, die sie mit Feuereifer beginnt, und denen sie psychisch nicht gewachsen ist, weil sie in jeder Vorgesetzten die endlich einmal liebevolle Mutter sucht, nur denkt die Chefin gar nicht daran. So schickt man sie jedes Mal während der Probezeit wieder nach Hause. Schließlich findet sie Anstellung in einem Büro, wo sie sich sehr wohl fühlt: Sandy ist das nette, hilfsbereite, stets zuverlässige Faktotum für alle. Sie wird gebraucht. So sehr sogar, dass sie sich zu aufreibenden Wochenendeinsätzen bereit erklärt und dann über zwei Jahre brav auf das vereinbarte Zusatzhonorar wartet, das nie kommt: „Uns geht´s nicht gut, Sandy.“, sagt der Boss. „Wir brauchen dich. Du musst mir da vertrauen. Nur noch paar Monate, dann sind wir aus dem Gröbsten raus!“ – Und natürlich vertraut sie und lässt sich auf altvertraute Weise verschleißen.
Zwei Jahre lang höre ich nichts.
„Weißt du, was ich getan habe?“
„Erzähl!“
„Ich hab meinen Vater besucht!“
„Wow!“
„Ich hab ihn ausfindig gemacht und ihn einfach angerufen. Dann bin ich zu ihm gefahren und hab sehr lange mit ihm geredet. Seine neue Frau war auch sehr nett zu mir.“
„Und? Hat es dir gut getan?“
„Nein.“
„Wieso?“
„Sie haben mich belogen und im Stich gelassen! Alle!“
Es stellte sich heraus: Der Vater, ein einfacher Handwerker, hatte seine Familie gar nicht verlassen; vielmehr hatte die Mutter ein Verhältnis mit dem späteren Stiefvater begonnen und den Ahnungslosen eines Abends einfach hinausgeworfen. Tage später zog der Stiefvater ein. Die Versuche des Vaters, Kontakt zu seiner Tochter herzustellen, wurden von der Mutter kaltherzig blockiert.
„Wenn er anrief, hat sie immer gesagt, ich wär´ nicht da, oder ich würd´ schon schlafen!“
Stattdessen baute sie ihn gegenüber der Tochter als Monstrum auf, das die Familie im Stich gelassen hatte. „Ohne deinen neuen Papa hätten wir auf der Straße gesessen, hat sie mir erzählt! Dabei saß mein Vater damals auf der Straße!“
Gar nicht so selten, diese Zwecklügen: Sie erhalten die Fassade und dienen der Verdrängung einer Schuld, die flugs nach außen projiziert wird.
Doch für Sandy bringen die Begegnungen eine bittere Erkenntnis: „Mein Vater war ein Weichei. Er hat nicht wirklich um mich gekämpft, sondern einfach aufgegeben und sich mit seiner neuen Frau ein neues Leben eingerichtet, in dem ich nicht mehr vorkam. Und ich hing alleine rum und hatte niemanden.“
Nun beginnt auch Sandy´s retrograde Amnesie – offenbar eine traumainduzierte – sich zu lockern: Bilder und Gefühle tauchen auf, an glückliche erste Jahre mit dem geliebten Daddy. An den totalen Absturz, als ihre wichtigste Identifikationsfigur am einen Abend noch da war, und am nächsten Morgen für immer verschwunden. An die Einsamkeit, als die Mutter ihren Schmerz eisig ignorierte und ihr herrisch verbot, vom Vater zu sprechen. Doch mit den Erinnerungen kommt auch die Einsicht, dass Sandy´s Verhalten und ihre Niederlagen nur ein einzige Triebfeder hatten: Den verzweifelten Wunsch, irgendwo dazuzugehören, nicht nur Faustpfand zu sein, sondern ein Kind, dessen Seele verstanden und geachtet wurde. „Communion“ nennt es die Fachliteratur: Teil eines Ganzen sein zu dürfen. Sehr problematisch, wenn unerfüllte Kinderwünsche das Erwachsenenleben bestimmen.
Sandy trifft ihren Vater noch mehrmals in größeren Abständen, doch auch bei ihm ist sie darauf konditioniert, sich klein zu machen und nicht zu „stören“, um wenigstens dabei sein zu dürfen. So stellt sie nicht die Fragen, die ihr auf den Nägeln brennen, und so versandet der Kontakt allmählich wieder.
Mitten im Büro bricht die stets so gefügige und pflegeleichte Sandy psychisch vollständig zusammen. Sie wird abtransportiert, für ein Jahr krankgeschrieben, verbringt zwölf Wochen in einer psychosomatischen Klinik und wird mit neununddreißig Frührentnerin, nachdem mehrere Versuche, die Arbeit wieder aufzunehmen, in Zusammenbrüchen endeten. Auf Mails antwortet sie nicht mehr. Als sie sich nach Jahren wieder bei mir meldet, lebt sie von Sozialhilfe und holt ihr Essen bei einer Tafel. Meine Einladung zum Kaffee lehnt sie ab, weil sie ihr Einzimmerapartment so gut wie nicht mehr verlässt.
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