Ein Vater frisst sein Kind.

Wenn einer die Gabe hat, einen Menschen zwei Stunden lang ohne Atemholen gegen die Wand zu schwafeln, dann er. Danach hat man einen Schädel, als wäre man gegen einen Dachsparren gerannt. Der millionenschwere Unternehmer, der das beträchtliche väterliche Erbe nochmals deutlich vermehrt hat, bietet eine Logorrhoe der allerfeinsten Art: Ein zwanghafter Redeschwall, ohne die geringste Unterbrechung. Aneinander gereihtes Gefasel, dem man irgendwann nicht mehr folgen kann, und dessen Sinn und Zweck unerschlossen bleiben. Wortdurchfall, nicht anders als bei der Diarrhoe. Irgendetwas lässt sich einfach nicht verdauen.

„Du würdest mir echt einen Gefallen tun, wenn du ihn hinkriegst.“
„Mhm.“
„Der Junge ist zwanzig, der muss ja irgendwann mal funktionieren. Und du verstehst doch was von diesem Psycho-Quatsch.“
„Mhm.“
„Nur lass MICH da außen vor, sonst heißt es am Ende noch, ICH hätt´ ein´  an der Waffel.“
„Mhm.“
Sagt es, springt in sein rotes Ferrari-Cabriolet und donnert davon. Seine Waffel nimmt er mit, selbstredend, soll ja nichts drankommen.

„Der Junge“ ist zwanzig und fast genau so breit wie hoch. Ich schätze ihn auf mindestens fünfzig Kilo Übergewicht bei 170 cm Körpergröße. Meist schweigt er. Stets wirkt er seltsam abwesend, völlig in sich zurückgezogen, hermetisch dicht. Manchmal strahlt er eine kaum merkbare Trauer aus. Auch auf Freundlichkeiten reagiert er starr und ohne Lächeln. Die meiste Zeit sitzt er in seinem Appartement, guckt Fernsehen und isst. Freundin hat er keine, dafür ist er unsterblich verliebt in Jennifer Aniston, mit deren Bildern er sich die Wände vollgepflastert hat. Er hat, nach väterlicher Meinung, „einen an der Waffel“, und das trübt nicht nur dessen Perfektionsanspruch, sondern auch das Bild der erfolgreichen Gesamtfamilie. Demnächst soll er in einer der elterlichen Firmen unterkommen. Gnade ihm Gott, wenn er nicht endlich mal gescheit funktioniert, wozu haben wir ihn denn?

Keine Aufgabe für einen Coach, indeed, sondern für einen Facharzt, denn die schwere psychische Störung ist manifest: Massive Essstörung, irgendwie das Gegenteil zur Magersucht, dazu eine „larvierte“ Depression, die sich nach außen kaum zeigt. Unübersehbar die Mutlosigkeit und die Selbstverachtung. Reine Zeitfrage bis zum ersten Suizidversuch. Aber als Freund der Familie kann man sich ja engagieren, um „dem Jungen“ den Einstieg in eine Therapie zu bahnen. Der nämlich beginnt gerade zu begreifen, dass das Leben wie hinter einer Glaswand an ihm vorbeiziehen wird, wenn er nichts verändert. Und dass es außerhalb der eigenen vier Wände ein Leben gibt, das für den verschlossenen und höchst unsicheren jungen Francis  irgendwie unerreichbar ist. Es stellt schon eine Gefühlsexplosion dar, dass er mit mir Badminton spielt. Selbst dabei reagiert er mechanisch, roboterhaft, ausdruckslos. Und gewinnt am Ende haushoch, was er ausdruckslos zur Kenntnis nimmt. – Es heißt: Ich hätte ja so viel Kraft in mir, aber ich kriege sie nicht nach draußen.

Das Gespräch mit ihm ist einfach: Er hört zu, sagt nichts, nickt am Ende. Man hat ihm ja seit jeher gesagt, was gut für ihn ist. Das Gespräch mit dem Vater, dem ich eine mehrjährige Tiefenanalyse für seinen Sohn empfehle, wird schwierig, denn ich brauche geschlagene vierzig Minuten, bis ich gegen den sofort einsetzenden Redeschwall meine Empfehlung durchsetzen kann: „Ich halt da ja nix von. Die haben eh alle selber einen an der Waffel. Also meinetwegen, mach´s mit ihm, aber halt mich da raus. Nicht dass es am Ende heißt, ICH hätte…“
„Schon gut“, sage ich, „aber dann bleib auch draußen.“ Essstörung und Autonomiekonflikt sind praktisch Synonyme.

Der Psychiater, zu dem ich ihn schließlich vermitteln kann, erkennt seine Herkulesaufgabe. Nach drei-vier Monaten erzählt Francis mir, er fühle sich wohl in der Analyse, weil er sich verstanden fühle. „Ich kenn das gar nicht, dass mir mal jemand zuhört.“ Er hat ein paar Kilo abgenommen, nachdem der Arzt ihn therapiebegleitend auf die Weight Watchers verpflichtet hat. Am Ende werden es über dreißig Kilo sein.

Doch zwischendrin kommt es zum Eklat: Der Psychiater will ein gemeinsames Gespräch mit Francis, dem Vater und der sehr liebevollen, wenngleich überforderten Stiefmutter. Beim gemeinsamen Termin redet der Vater ihn taub, auch ein Folgetermin verläuft so. Der Sohn wird zu dem, was er auch sonst ist: eine Randfigur, denaturiert zum Dekor des väterlichen Machtanspruchs. – Der Psychiater, nicht frei von feinem Humor, schickt dem Vater eine Beratungsrechnung, in der er ihm eine Angststörung attestiert. Da geht Papa endgültig in die Luft, ruft den Psychiater an und faltet ihn zwanzig Minuten lang zusammen.
„Wie kommen Sie darauf, ich hätte eine Angststörung?“
„Weil Sie die haben.“
„Quatsch! – – – Wovor hab´ ich denn Angst?“
„Sie haben eine große Angst vor Ent-wer-tung.“
Verdutztes Schweigen. Dann legt einer auf.

Danach allerdings ruft er mich an und verlang wutschäumend, dass ICH diese Rechnung überweise, damit sie in seinen Büchern nicht auftaucht. Er würde mir das Geld anschließend in bar geben.
„Ich bin doch nicht verrückt und geb´ sowas in die Buchhaltung!“
Ich lehne ab.

Francis hält über drei Jahre durch. Mit dem Verlust von dreißig Kilogramm Körpergewicht wird er zwar nicht gerade zur Frohnatur, doch wenigstens etwas offener und gelöster. Die Depression hat sich unter der analytischen Arbeit weitgehend aufgelöst. Er hat begonnen sich einen Job zu suchen, – erster vorsichtiger Schritt in ein eigenes Leben: Da beginnt jemand sich tatsächlich abzulösen. Das zeigt sich auch daran, dass der Vater mich anruft und mir mit schneidender Arroganz nahelegt, mich aus seinen „Familienangelegenheiten“ herauszuhalten. Ihm gefällt nicht, dass der Sohn bei mir Rat gesucht hat: Francis soll seinen anstehenden Urlaub im Tessiner Familiendomizil verbringen, doch hat er nicht richtig Lust darauf. Ich rate ihm zu einer unabhängigen Entscheidung.

Sieht also alles ganz gut aus, denke ich, aber ich denke zu früh. Denn zwei-drei Monate später ruft mich der Psychiater an: „Hast du irgendwas von Francis gehört?“
„Nö“, sage ich. „Ewig nicht gesehen. Wir haben uns vor seinem Urlaub zum letzten Mal gesprochen.“
„Ich auch.“, sagt der Psychiater, und ich setze mich erst mal hin.
„Er hat die Analyse abgebrochen? Mittendrin?“
„Mhmmmm.“

Diskrete Nachfragen im Umfeld bringen Aufklärung: Francis bekam ein neues Auto versprochen für die Änderung seiner Urlaubspläne und verbrachte seine Zeit am Ende halt doch im Tessin. Freiwillig ins Netz der Spinne gekrabbelt, stand er drei Wochen lang unter dem Dauerfeuer eines Vaters, für den Machtverlust die ultimative Katastrophe darstellte. Schließlich erhielt er das Angebot seines Lebens: ein lukrativer Geschäftsführerjob in einem der elterlichen Büros. Allerdings unter der Bedingung, dass er seine Behandlung sofort abbrach und „endlich mal was Vernünftiges“ machte.

Lange später begegne ich Francis im Stadtzentrum. Er hat wieder stark zugenommen. Als er mich erkennt, senkt er den Blick und verschwindet hastig in einer Konditorei.
Vielleicht wartet dort Jennifer Aniston auf ihn.

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