Ein Killer namens Hysterie.

„Wissen Sie, wieviel Uhr es ist?“
„Na, wieviel wird´s sein.“, sag ich. „Wissen Sie doch selber.“
Das gefällt ihr gar nicht. Ich ernte einen ungnädigen Blick, und sie stakst hackenden Schritts an mir vorbei.
„Wir müssen meine Tochter retten!“ hämmert sie in kräftigem Stakkato und setzt sich. „Unbedingt! Des-halb-bin-ich-heu-te-bei-Ih-nen!“
„Will die denn gerettet werden?“
Sie zieht den kurzen Rock glatt, eine Symbolhandlung. Outfit und Körpersprache sind eine sexualisierte Herausforderung. „Rauchen darf man bei Ihnen wohl auch nicht?“
„Stimmt.“, sage ich. Mit überzogener Gestik fallen die Zigaretten in die Handtasche zurück.

Die Hysterica braucht den Auftritt. Ihre überaus heftige und oft aus jedem Zusammenhang fallende Reaktionsweise kann selbst den Erfahrenen restlos ins Schwimmen bringen. Ihre permanent hohe, fordernde Anspannung signalisiert sie auf allen Kanälen: Mimik, Gestik, Tonlage, Körperspannung, Sprechgeschwindigkeit, sogar Kleidung. Ständig muss sie alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen, das Gegenüber in den Griff kriegen und es dem eigenen Bedürfnis nach Zuwendung dienstbar machen, notfalls durch Überwältigung. Alogische Fragespiele, wie das nach der Uhrzeit bei einem fest vereinbarten Gesprächstermin, gehören als Einstieg schon mal dazu. Auch ihr sexualisiertes Lockgebaren ist Teil des Gesamtbildes, wobei es panikartig umschlägt in brüske Abweisung und Flucht, sollte jemand die Dame beim Wort nehmen und aus dem Spiel plötzlich Ernst machen wollen. – So groß der Hunger nach Zuwendung ist, so bedrohlich ist Nähe; vor allem, wenn sie mit Bindung kombiniert ist: Diese nämlich setzt echtes Erkennen an die Stelle des Auftritts und noch dazu ermöglicht sie den Blick hinter die Theatralik. – Dort allerdings herrscht das schiere Elend.

Die dringend zu rettende Tochter, so viel wird schnell klar, hat eine berufliche Entscheidung getroffen, die der ehrgeizigen Mutter missfällt. – Logische Konsequenz: das Kind (46) ist zu dumm und übersieht die Folgen seines Handelns nicht. Es muss vor sich selbst in Sicherheit gebracht werden, – und zwar zu mir.
„Ich wünsche, dass SIE mit ihr sprechen und ihr das klar machen. SIE sind schließlich Coach. Und auf mich hört sie nicht.“ Meine Frage, wer denn nun eigentlich meine Klientin sei, findet eine indignierte Antwort: „Das Kind natürlich!“
„Dann muss Ihre Tochter mich beauftragen und nicht Sie.“
„Las-sen-Sie-mich-jetzt-auch-noch-im-Stich?!“ Schluchzen.
Würde ihr so passen, dass ich mich jetzt schuldig fühle.

Hysteriker kompensieren ihre tiefsitzende Angst, zu wenig Beachtung zu finden, durch permanente Selbstinszenierung. Schon die Frage nach der Uhrzeit beim Beginn des fest vereinbarten Gesprächstermins ist alogisch und stellt den ersten Versuch dar, den Coach in den Griff zu kriegen. Zugleich soll sie die Unsicherheit beim Erstkontakt überspielen, denn das machen Hysteriker gerne: aufkommende Angst und Selbstzweifel abfangen durch spontane, unberechenbare Aktionen, sei es auf verbaler oder auf der Handlungsebene: „Agieren“ nennt man das. Stets heftig, – denn wild emporschießende Gefühlseruptionen sind das tägliche Brot der Hysterica.

So lassen sich also bestimmende Merkmale beschreiben: Intensives, oft schrilles Auftreten, in der Regel mit stark sexualisierter Komponente; heftige und überzogene Gefühlsreaktionen aus dem Nichts heraus; Absaugen jeder Umgebungsaufmerksamkeit bei gleichzeitig hoher Körperspannung; vollständige Alogik im Konflikt, die eine rationale Auseinandersetzung unmöglich macht. – Selbst Stavros Mentzos, der 2015 verstorbene große Hysterieforscher, stöhnt in seinem Klassiker „Hysterie“ über die Alogik, die „jeden zum Wahnsinn treiben“ könne. Doch ein weiteres Merkmal werden viele kennen, die in Beruf oder Privatleben mit Hysterikern zu tun haben: Sie legen größten Wert darauf, dass das Gegenüber sich schuldig fühlt.

So ist auch der Vorwurf der Mutter mir gegenüber zu verstehen, denn Jedem leuchtet ein, dass sie ihre Tochter bei mir nicht zum Zwangscoaching anmelden kann: Irgendwo ist sie sich der Übergriffigkeit einer erwachsenen Frau gegenüber bewusst; ihr daraus resultierendes Schuldgefühl allerdings muss sie auf mich projizieren: Wenn ich mich schuldig fühle, braucht sie es nicht mehr zu tun.

Und so gelangen wir zur zweiten Triebfeder von Hysterikern: So lärmend, wie sie grenzenlose Aufmerksamkeit einfordern, so wenig vertragen sie es, für etwas verantwortlich zu sein. „Hysterische Schuldabwehr“ also ist das, was oft jeden Versuch einer sachlichen Problemdiskussion zur Kriegshandlung hochstilisiert. – Fiktives und doch sehr lebensnahes Beispiel:
„Können Sie mir solche Unterlagen nicht etwas früher vorlegen?“
„Und SIE parken mit dem Auto auf dem Rasen!“ – Ab da geht die Spirale nach oben.

Nur, gerade damit wird sichtbar, wie anfällig das durch vermeintliche oder echte Aufmerksamkeitsdefizite geschwächte Selbstwertgefühl hinter der donnernden Fassade ist: Wer aufgrund eines riesigen Defizits an Zuwendung diese mit allen Methoden einfordert, selbst um den Preis der Sexualisierung, der verspürt unbewusst ein permanentes Unbehagen, sich auf Kosten anderer zu bedienen. Dieses Schuldgefühl aber, das aufgrund der geringen Selbstwertstabilität nicht ertragen wird, muss unter allen Umständen abgewehrt und nach draußen umgeleitet werden. Da dies mit logischen Mitteln nicht zu leisten ist, ist Alogik der verzweifelte Rettungsanker, mittels dessen zumindest der Anschein einer Begründung geliefert werden kann, und sei sie noch so schräg. Zum Zwecke der alogischen Begründung müssen alle von außen kommenden nicht-bestätigenden Argumente durch Verdrehung ins Gegenteil verwandelt werden: in einen massiven Schuldvorwurf an den Ahnungslosen. – – Stavros Mentzos hatte schon Recht, dass einen das regelmäßig an die Zimmerdecke treibt.

„Gnädige Frau, ich kann Ihre Tochter nicht gegen ihren Willen coachen. Da muss sie schon von selber zu mir kommen.“
„Und SIE wollen ein Mann sein?“ Stavros Mentzos, siehe oben….
Die Tochter übrigens meldete sich niemals bei mir. Hätte ich auch nicht getan. Von Mama hörte ich auch nichts mehr. Sie war sehr eingeschnappt und fand mich „unerträglich direkt“.

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