Der Coach und der Herr Jung.

Der Druck scheint infernalisch zu sein, denn der junge Mann, ein sensibler, nachdenklicher Endzwanziger, hat zittrige Finger und sieht irgendwie „verbraucht“ aus. Dabei, meint man, sollte es ihm gut gehen: Seine Familie ist wirtschaftlich hervorragend aufgestellt, ihre Wirtschaftsberatung in der Nähe von Frankfurt floriert, und in einigen Jahren wird der Vater, ein gütiger Patriarch, die millionenschwere Firma an seinen Junior übergeben. Er hält viel von ihm und baut ihn seit Jahren dafür auf. Und der Junior sitzt hier und spricht von Suizid, der ihm als „Ausweg aus allem“ gelegentlich durch den Kopf schießt. – Nicht konkret, nicht aktuell, – nur so als Gedanke.

Hat er sich denn im Job so aufgearbeitet? Oh nein, den macht er „gern“. Wie sieht es aus mit Beziehungen? Mit seiner Partnerin „läuft es ganz okay“. Naja. Die Gleichaltrige ist ehrgeizig, karriereorientiert, wirtschaftlich denkend „und steht voll hinter mir bei dem, was da auf mich zukommt.“ Begeisterung klingt anders, irgendwie. Vorsichtig stellen sich mir die Ohren auf. Alles ist bestens, so wie es sein soll, nur mir selber geht´s besch… Klaro.

Im Verlauf mehrerer Sitzungen zeichnet sich ein differenzierteres Bild des jungen Mannes: ein eher introvertierter Typus mit reicher Gefühls- und Gedankenwelt, künstlerisch geprägt mit Neigung zur Architektur, querdenkend, voller Kreativität und seltsam eingefangener Lust am Leben. Denn er lebt, um Erwartungen zu erfüllen, was dazu führt, dass sein eigenes Leben unerledigt liegen bleibt. „Nicht abgeholt!“, sozusagen. Sukzessive nämlich wird deutlich: Das Ausmaß an Verdrängung, mit dem er sich selbst und all den Neigungen und Eigenschaften begegnet, die ihn einzig und wertvoll machen, ist umgeschlagen in Selbstverleugnung, weil die Art, wie er wirklich ist, mit den Erwartungen seiner Unternehmerfamilie konflingieren würde. Die Liebe zum bewunderten Vater ist so unendlich, dass er alles tun wird, um diesem seine Träume zu erfüllen: Der Sohn, auf den ich so stolz bin, wird mein Nachfolger und führt meine Firma in die nächste Generation. Oder anders formuliert: Unternehmerische Tradition ist eine der häufigsten Ursachen für Tragödien in Unternehmerfamilien.

Da fällt mir Luke wieder ein, mein Schulkamerad aus der Parallelklasse: Ein vor Einfällen sprudelnder schräger und quirliger Vogel, der aus dem Nichts heraus die witzigsten Comics zeichnen konnte, während er nebenher die verrücktesten Geschichten erzählte, bis wir Tränen lachten. Er kleidete sich wie ein Künstler, und er dachte und fühlte auch so. Der Vater allerdings, als Mitglied der Kriegsgeneration frühzeitig hart geworden, hatte sich in den Nachkriegsjahren eine Tankbaufirma aufgebaut und hatte „entschieden“, dass der Älteste – eben Luke – sie übernehmen und fortführen sollte. Luke studierte folgsam und widerwilligst BWL und fiel zweimal durch das Examen. Der Vater „entschied“ daraufhin, ihn an eine Privatuniversität in der Schweiz zu schicken, denn der Junge sollte „was Gescheites lernen“. Dort wurde Luke magersüchtig und starb fast daran. Als Ergebnis seiner Magersucht fiel er zum dritten Mal durch das Examen. Nun entschied der Vater, Luke habe sein Wissen dann eben in der Praxis zu erwerben, und er schickte ihn ins Zweigwerk nach Berlin. Dort kippte Luke von einem Moment zum anderen mit einem Aneurysma vom Stuhl und überlebte die anschließende Gehirnoperation nur knapp. Kaum genesen, folgte er dem Wunsch des Vaters und fuhr mit dem Auto zu diesem nach Hause. Unterwegs baute er einen schweren Unfall, der ihm sein ganzes Gesicht zerschmetterte. Die Silberplatte am Schädel und die Silberdrähte aus seiner Gesichts-OP trägt er heute noch. Seither tut er mehr oder weniger nichts mehr und lebt zurückgezogen von den Erträgen dessen, was der längst verstorbene Vater angelegt hatte. Die Firma wurde aufgekauft. Lukes lebenslang gescheiterte Autonomiebestrebungen beschränken sich auf gelegentliche spitze Bemerkungen gegen seinen Erzeuger, zu dem er „nie wirklich ein echtes Verhältnis“ hatte. Ziemlich hoher Preis für so ein Nicht-Verhältnis.

Seltsamer Zufall: Als ich beim Studium der Werke C.G. Jungs erstmalig auf den Ausdruck vom „immanenten Lebensentwurf“ traf, saß ich in Lanzarote auf der Hotelterrasse und grübelte als Mittvierziger gerade darüber, ob ich mich als geschäftsführender Gesellschafter meiner eigenen Werbeagentur eigentlich glücklich fühlte. Trotz Zwölf-Zimmer-Haus, Indoor-Pool, Sauna und Mercedes 600, – ich fand mich nicht imstande, aus vollem Herzen ja zu sagen. Meine Faszination für die Tiefenpsychologie und meine ausgeprägte literarische Neigung standen irgendwie quer zu dem, was ich tat. Freud-Schüler Jung jedenfalls stellte die These auf, dass Menschen von Geburt an eine Art natürlichen inneren Lebensentwurf auf ihren Genen tragen. Ist einer als Pianist zur Welt gekommen, wird er alles daransetzen, später als Pianist zu leben. Ein geborener Landwirt wird kreuzunglücklich werden, wenn er auf einmal Cello studieren soll. Ein geborener Mediziner wird innerlich verzweifeln, wenn er – wie zu Stalins Zeiten üblich – auf die Ingenieurschule geschickt wird. – – Will sagen: die Anlagen sind gegeben, die Fähigkeiten können entwickelt werden oder unterdrückt. Je nach dem, lebt der Mensch dann frei und bewegungsfähig in seiner Realität oder ziemlich eingequetscht.

Aussage genug ist jedenfalls, dass mein junger Klient vor einer Hausaufgabe kapituliert, die ich ihm mitgegeben habe: Er möchte sich doch einmal hinsetzen und alle eigenen Wünsche an all sein eigenes Leben festhalten, damit wir darüber sprechen können.  „Mir ist nichts eingefallen.“, sagt er beim nächsten Mal schuldbewusst. Er hat es als meine Leistungsanforderung erlebt, vor der er versagt hat, – und nicht als Möglichkeit, sich selbst tiefer kennen zu lernen. Die Identifikation mit dem Vater und dessen Wünschen also ist inzwischen so vollständig, dass der Sohn aufgehört hat, als Wesen zu existieren. Er ist zum Anhängsel des Firmenchefs geworden, oder – analytisch gesprochen – zur Erweiterung von dessen „Größen-Selbst“. So verabschiedet man sich von der eigenen Persönlichkeit.

Dann, aus dem Nichts heraus, ruft der jüngere Bruder des Firmenchefs an, ob ich Zeit für ein Gespräch hätte. Da staunt man erst mal, aber man kann es ja schlecht verweigern. Der Onkel meines Klienten ist gerade fünfzig geworden und psychisch abgestürzt. Er will nicht über seinen Neffen reden, sondern über sich selbst, denn es geht ihm schlecht. Er nimmt nämlich die Veränderung an seinem Neffen wahr, seit der sich coachen lässt. Und nun fragt er sich, wofür ER eigentlich gelebt hat. Dies umso dringlicher, als mein junger Klient soeben in der Firma bekannt gegeben hat, er werde jetzt erst einmal NICHT einsteigen, sondern stattdessen ein Jahr lang auf Weltreise gehen, um seinen Kopf freizukriegen. Die Mitarbeiter kriegten den Mund nicht zu, der Vater bekam einen Blutdruck von 220/130 und lag für einen Tag stationär zur Beobachtung. Sage niemand, Coaching könne nichts bewirken.

Und so haben die Dinge eine erstaunliche Wendung genommen: Der Sohn, ein Mann von plötzlich unbeugsamer Entschlossenheit, durchquert auf eigene Faust Afrika, Asien, Australien und Neuseeland. Sein Onkel hingegen sitzt nun regelmäßig bei mir und versucht herauszufinden, was in seinem Leben falsch gelaufen ist. Zuallererst einmal trennt er sich von seiner Frau.

Dann allerdings beginnt er eine neue Rechnung aufzustellen: Er ist finanziell so gut aufgestellt, besitzt mehrere Mehrparteienhäuser und mobiles Vermögen, dass er sich auf einmal fragt, warum er siebzig Stunden die Woche arbeitet. Ihn hat nämlich wie ein Schlag die Einsicht ereilt, dass er das gar nicht braucht. „Es war halt immer so. Mein Bruder hat die Firma geführt und ich war der Prokurist und hab ihm zugearbeitet. Ich hab da eigentlich nie groß drüber nachgedacht.“ Nur, jetzt denkt er nach. Und er kann überhaupt nicht mehr aufhören mit dem Nachdenken. Er kommt ein halbes Jahr lang zweiwöchentlich, dann erklärt er seinem verdutzten Bruder, dass er in zwölf Monaten aus der Firma ausscheiden werde.

Der Sohn hingegen sitzt mir ein Jahr nach seinem Abflug braungebrannt und bester Dinge gegenüber. Er hat bereits seinen Entschluss verkündet, dass er in die väterliche Firma nicht mehr eintreten und sie auch nicht übernehmen werde. Denn ausgerechnet in Neuseeland hat Amors Pfeil ihn ereilt, in Gestalt der Tochter eines Winzers auf der Nordinsel. Er sei nur noch hier, um seine Sachen zu verkaufen, erzählt er mir mit leuchtenden Augen. Außerdem will er mit seiner neuen Eroberung noch für ein halbes Jahr nach Südamerika. Ach so, ja klar…

Und auch der Onkel, anfangs ein Häufchen ausgebranntes Elend, strahlt wieder Zuversicht aus. Er freut sich auf den neuen, endlich selbstbestimmten Lebensabschnitt mit einer neu gefundenen Partnerin. Dennoch, ich frage besorgt, wie es dem Firmenchef geht. „Ach der? Der bereitet gerade den Verkauf seiner Firma vor. Danach will er mit seiner Frau auf seine Farm in Maine.“ Ach, in Maine? „Hat er sich vor kurzem gekauft. Er hat gesagt, ich soll Sie herzlich grüßen!“ – „Schön´ Dank!“, sage ich. Auch als Coach kriegt man ja manchmal den Mund nicht mehr zu.

Eine Idee zu “Der Coach und der Herr Jung.

  1. Tim Mainz sagt:

    Wie auch schon an anderer Stelle geschrieben danke für Ihre sehr interessanten ‚Geschichten‘ aus Ihrem Arbeitsleben. Ich freue mich auf das was vor mir liegt! Und auf weitere Berichte aus Ihrer Arbeit 😉

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