Es gibt schon viel zu viele Leichenberge. Viel zu viele entwürdigte Frauen. Viele zu viele Gefolterte. Viel zu viele Häftlinge überhaupt. Ein großer Teil der Welt ist ein Gefängnis, nach wie vor, auch wenn die Fassade oftmals freundlich glitzert. Am absurdesten und zugleich erhellendsten zeigt es sich im Iran: ein verrutschtes Kopftuch reicht als „Rechtfertigung“ für die Auslöschung eines jungen Lebens; in China reicht eine Uigurische Abstammung; in Russland politischer Dissens.
Was alle diese Regime – und noch viele mehr – miteinander verbindet, ist die Liebe zum Zwang: Regeln, kontrollieren, zwingen, strafen, – das sind ihre Herrschaftssäulen. Grenzenlose Macht und eine Atmosphäre der Angst machen jegliche humane und soziale Grenzüberschreitung möglich. – Nicht aufgrund demokratischen Konsenses, sondern durch die Macht der Gewehrläufe und der Folterkeller. Die agierenden Typen – euphemistisch bezeichnet als Staatschefs, während es sich in Wirklichkeit um Schwerverbrecher handelt – können daher getrost als Menschen mit zwanghafter Persönlichkeitsstörung bezeichnet werden.
Kennzeichnend für solche Gestörten sind neben anderem eine unglaubliche Starre des Denkens, völlige Empathielosigkeit und flache Affekte bis hin zur völligen Affektlosigkeit. Nichts ist schlimmer für sie als der Kontrollverlust. Denn das einmal von ihnen „für richtig Erkannte“ unterliegt keinem Wandel mehr: Es wird zur ewigen Wahrheit, zum ewigen Gesetz erhoben. Angst vor der Veränderung führt zum Festklammern an der autoritären Ordnung, die in Wirklichkeit keine ist.
Mobilität und Flexibilität, die zum kritischen Hinterfragen führen, gefährden das in Stein gemeißelte System, bei dem es letztlich um nichts anderes geht als um eine nach außen projizierte Triebkontrolle. Die Zwanghaften selbst nämlich weisen einen massiv unterdrückten aggressiven und sexuellen Triebüberschuss auf. Ihr inneres Zensursystem, früh in den Kopf betoniert durch autoritäre Erziehung, ist in Strafangst erstarrt. Jede Form nichtkontrollierten Lebens – inklusive Gefühlsleben – macht ihnen Angst vor der strafenden Autorität. Buntheit also ist nicht Reichtum, sondern Gefährdung; Spontaneität nicht Lebensqualität, sondern Unterwanderung; Regelverletzung nicht Ausdruck innerer Freiheit, sondern Manifestation akuter Lebensgefahr: Wo die „Ordnung“ beweglich wird, bricht sie zusammen, schnattern sie.
Und so wird uns langsam klar, dass diese zwanghaft Gestörten ihre eigenen Ängste ausleben: Sie unterdrücken andere, um sich nicht mehr selbst unterdrückt fühlen zu müssen. („Müssen“ ist ohnehin ihr Lieblingswort.) Sie kontrollieren ein gesamtes Volk, um nur ja nicht die Kontrolle über die eigenen Triebwünsche zu verlieren. – Freiheit und Glück sind ihnen etwas für dekadente Weichlinge. Ihre Fähigkeit, sich in die Schmerzen einer vergewaltigten Gefangenen oder eines Gefolterten einzufühlen, liegt bei oder gar unter null. Im letzteren Falle manifestiert sich der sogenannte „anale Sadismus“, der sich an den Qualen anderer delektiert.
Solche Zwanghaften kennen nur die eigene „Realität“, die in Wirklichkeit keine ist: Sie wird zurechtgelogen, zurechtgebogen, zurechtgestutzt. Ihre Infragestellung gefährdet diese maximal reduzierte Wahrnehmungswelt. Denn die kann nur überleben, indem sie gewaltsam alles aus der spartanischen Realität tilgt, was sie ergänzen und komplettieren könnte: Aus diesem Grund „muss“ Putin politische Gegner ermorden lassen. Das iranische Schlächterregime „muss“ folglich junge Frauen „bestrafen“, die eine zum ewigen Gesetz erhobene Ordnung („Es ist der Wille Allahs!“) durch ein verschobenes Kopftuch gottlos herausfordern. Und Xi Jin Ping überwacht eine Milliarde Landsleute so vollständig, dass sie seine Vorstellung der Welt nicht gefährden können. Meint er.
Wir erkennen also: Diese Art repressiver Politik ist nichts anderes als Verleugnung, ein bekannter psychischer Abwehrmechanismus. Zur Erhaltung ihres pathologischen Systems muss sie alles im Widerspruch zur eigenen Wahrnehmung Stehende ausmerzen. Oder anders formuliert: Wenn ich Kritiker und Opponenten einsperre, foltere, ausmerze, (was niemals gelingen wird), dann habe ich alle Realität beiseitegeschoben, die meine eigene, wenn auch verstümmelte, Realität als krankhafte Farce entlarven könnte. Denn diese ist ewiges Gesetz. Und ich als ihr Inhaber verteidige sie und damit meine eigene psychische Verstümmelung mit aller Kraft. – Perverserweise also wird die Vernichtung der Realität als Beweis für die Richtigkeit der eigenen Vorstellung von der Welt genommen. Das Ergebnis ist, dass der innere Friedhof zum äußeren wird: das Land verstummt.
Um dies zu erreichen, benötigt der Täter das Abwehrinstrument der Entwertung: Andersdenkende werden zu „Terroristen“ oder „Nazis“ oder „Feinden des Volkes bzw. Allahs“ erklärt, die man ja guten Gewissens bis zur Ausrottung bekämpfen kann. Siehe Assads Umgang mit den Aufständischen. Siehe Putins Umgang mit Nawalny, Politkowskaja, Litwinenko, den Skripals, und, und, und…
Siehe Saddam Hussein. Siehe Muammar al Gaddafi. Siehe Mullah-Regime. Siehe Hitler, siehe Honecker, siehe Mielke, siehe Stalin. Die Liste ist endlos. Auch Donald Trump passt gut ins Schema, denn Zwanghafter plus Macht = Entwertung und Zerstörung zum Zwecke der „Errettung“. Groll auf irgendetwas, Untergangsphantasien und Selbstüberhöhung als „Wissende“ sind weltweit die Triebkräfte des Extremismus.
Wohlgemerkt: Es gibt Millionen zwanghaft strukturierter Menschen, die sich als Wissenschaftler, Juristen, Polizisten, Soldaten oder auch Verwaltungskräfte bewähren und unserem Land wertvolle Dienste leisten. Doch es sind auch Zwanghafte, die erneut eine zwanghafte Gewaltherrschaft bei uns errichten wollen: Ein Prinz, eine Richterin, Soldaten, Ex-Polizisten, und dazu ein Haufen Deppen, die noch nie etwas waren und sich selbst erhöhen wollen, indem sie, langersehnt, Zwang auf andere ausüben. Da kann man dann schon mal Abgeordnete „festnehmen“ (Zwang) oder gar Regierungsmitglieder vor ein Tribunal stellen und sie zum Tode „verurteilen“ (Verleugnung), denn sie sind „Volksfeinde“ (Entwertung). Ab dann herrscht der bewaffnete Zwang in ganz Deutschland, vermutlich in seiner grausamsten Form, aber die können halt nicht anders.
Eine flagrante Schwäche des demokratischen Systems und des Völkerrechts ist es, dass man solche Entartungen nicht schon an der Wurzel bekämpfen kann: Der faschistische Umsturzversuch eines kriminellen Narzissten in den USA zeichnete sich schon im Vorfeld der US-Präsidentschaftswahlen ab. Aber wie ihn aufhalten und von öffentlichen Ämtern ausschließen? Wann und wie eingreifen, wenn die Milch sauer wird? Wie intervenieren, wenn ein Orban vom ehemaligen Liberalen zum Autokraten wird? Ein Putin zum Diktator? Ein Xi Jin Ping zum Größenwahnsinnigen?
Ich habe keine Antwort. Aber als Einer, der seine Kindheit unter den Nazisprüchen der deutschen Nachkriegszeit verbracht hat („Ja, du g´hörst ja nach Dachau!“ = Verleugnung), bin ich mir sicher, dass hier Hausaufgaben dringend gemacht werden müssen. Nicht zuletzt von der Forschung, die der Politik handhabbare Modelle liefern muss.
„Macht verdirbt. Vollkommene Macht verdirbt vollkommen!“, wandelte Lord Russell ein geflügeltes Wort von Lord Acton ab. Der Fehler unserer Demokratien liegt darin, dass ihre checks and balances eben nur in intakten (!) Demokratien funktionieren. Sie haben keinen wirklichen Schutzschild. Aber wir brauchen einen.
Ein internationaler Gerichtshof, der Staats- und/oder Regierungschefs des Amtes enthebt, wenn sie dabei sind (nicht erst danach!), Menschenrechte, Völkerrecht, Demokratie und Herrschaft des Rechts auszuhebeln? Warum eigentlich nicht? Das 21. Jahrhundert hat seine Aufgabe. Es wird sich ihr stellen müssen.