Über Gemetzel und Bewältigung.

Es war kein einfacher Gang, als ich Ende Juni dieses Jahres die Trauerrede für meinen langjährigen Freund Claus Biederstaedt halten musste. Zehn Tage vor seinem 92. Geburtstag war er gestorben, und schon kurz vor seinem 90. Geburtstag hatte er mich gebeten: „Bernd, wenn ich mal gehe, würdest du ein paar Worte für mich sprechen?“ Mir wurde klamm, doch selbstverständlich sagte ich zu, denn ich mochte ihn wie selten einen.

Claus Biederstaedt war eine Legende des deutschen Nachkriegsfilms und -theaters. Die 16jährige Romy Schneider erhielt ihren ersten Filmkuss von ihm, stürzte danach aufgelöst weinend in ihren Wohnwagen, und nur Claus durfte bzw. sollte zu ihr. In deutschen Filmproduktionen war er, besonders zu Anfang, auf dämliche „Mamas Liebling“-Rollen festgelegt, die er später ziemlich ätzend kommentierte. Als er folglich einem Filmproduzenten, der ihn für die nächste Sunnyboy-Rolle unter Vertrag nehmen wollte, auf einem gemeinsamen Flug nach Hamburg absagte, rastete der lautstark aus: „Ich mach dich fertig! Ich sorg´ dafür, dass du nie wieder eine Rolle kriegst! Wer bist du denn schon?!“ Da kam von rechts eine Faust und stoppte erst kurz vor der Produzentennase: „Hier! Willst du die kennen lernen?“ – Die Faust gehörte Hans Albers, der als Dritter in der Reihe saß und den jungen Kollegen schon früh ins Herz geschlossen hatte.

Umso mehr zeigte Claus seine schauspielerische Potenz in zahlreichen anspruchsvollen Fernsehrollen, und in seinem letzten Theaterstück stand er über 1400 (!) mal auf der Bühne, mit bis zu drei Vorstellungen täglich. Auch seine Regiearbeiten fanden großen Beifall, und schließlich reüssierte er als Synchronsprecher: Inspektor Columbo genauso wie Marlon Brando in „Der letzte Tango in Paris“, eine seiner Meisterleistungen. Von Loriot bis zu Joopi Heesters reichte sein Freundeskreis. Und Heesters hätte seine Simone Rethel nicht gefunden, wenn Claus sie ihm (übrigens auf Simones Drängen) nicht vorgestellt hätte.

Er war ein Mensch, der eine*n sofort tief berührte, denn mit seiner Wärme gewann er eine*n ebenso schnell wie mit seiner Aufrichtigkeit. Nicht zuletzt aber beeindruckten mich seine unglaubliche Willensstärke und seine Zähigkeit: Als man ihm nach einer Krebserkrankung zwei Drittel der Zunge amputierte, war es sehr schwierig, ihn zu verstehen. Ihn allerdings hinderte das nicht, noch jahrelang Schauspielunterricht zu geben, und ein paar Jahre später verlief die Unterhaltung mit ihm fast wieder normal. „Ich hab jeden Tag trainiert. Wär´ ja jelacht!“ – Etwas von preußischer Disziplin schimmerte hindurch. Zu seinem 90. Geburtstag informierte ich zeitig die Medien, denn ich wollte, dass er nochmals richtig gefeiert würde. Eine Redakteurin der BILD meinte anlässlich ihres Interviews zu ihm: „Im Gesicht sehen Sie einfach blendend aus!“ Als Antwort kam ein geknurrtes „Im Jesicht fehlt mir ja nischt!“ Sturschädel bis zum Schluss. Stets blickte er voller Dankbarkeit zurück: Will Quadflieg, ein Titan des Nachkriegstheaters, hatte sein Talent erkannt und ihn nach Kräften gefördert. Nicht anders Josef Offenbach und Josef Dahmen. Als „Charleys Tante“ in Berlin Premiere hatte, war der Kudamm gesperrt und schwarz vor Leuten, die ihn, Heinz Rühmann und Walter Giller im offenen Kabrio bejubelten.

Kann man sagen, dass er den Deutschen half, nach ihren ganzen Kriegsgräueln seelisch wieder Tritt zu fassen? Die Sache hat weiß Gott zwei Seiten, – er jedenfalls verkörperte die positive Seite, und das hieß: Frauenschwarm. Auch bei mir zu Hause lief es so ab: Sobald er auf dem Schwarzweiß-Bildschirm auftauchte, stöhnte meine Stiefmutter brünstig auf. „Aaaaach, daaaassss ist ein Mannnnn!“ – Worauf mein Vater wütend bellte: „Dann gehst halt hin zu ihm, wenn er gar so schön is!“ Hinterher war jedes Mal eisiges Schweigen im Raum.

Ein von den Göttern Geküsster also? Einer, der stets auf der Sonnenseite des Lebens wandelte?

Zumindest, was seine ersten Jahre im Pommerschen Stargard betrifft, wird man von einer behüteten Kindheit sprechen dürfen. Ein Musikerhaushalt, die Mutter liebevoll, Vater und Großeltern nicht minder. Illustre Gäste im Haus, darunter das von den Nazis gefeierte Flieger-As Ernst Udet, der den Kleinen sogar einmal mit sich hinauf nahm, hoch in die Luft. – Nur, der Krebs, den die Nazis ins Leben der Deutschen gestreut hatten, breitete sich mit Windgeschwindigkeit aus, und als Claus fünfzehn (!) war, erwischte es ihn: Sie machten ihn zum Flakhelfer. Dabei jedoch blieb es nicht, denn da die Wehrmacht ein ums andere Mal „siegreich unsere Stellungen geräumt“ hatte – Originalton damals -, rückte die sowjetische Armee immer näher. Claus Biederstaedt und seine neun Klassenkameraden wurden, gerade mal sechzehnjährig, an die Ostfront geschickt, als letzte Reserve des „Führers“, der sein Volk nach besten Kräften in Verbrechen und Untergang führte. – Schon in den ersten Tagen musste er zusehen, wie seine neun Freunde ihm links und rechts weggeschossen wurden. Nach einer Woche Fronteinsatz war er der einzige Überlebende des kleinen Trupps. In einem der riesigen Flüchtlingstrecks, die vor den herandrängenden Russen um ihr Leben liefen, versuchte er nach Westen zu kommen.

Als wäre dies nicht längst genug für ein sechzehnjähriges Bürschchen, traf ihn schon die nächste Tragödie: Seine Mutter schloss sich einem anderen pommerschen Flüchtlingstreck an. Unterwegs hörte sie, die Truppe um Claus sei aufgerieben worden, und so glaubte sie, auch ihr Sohn sei unter den Toten. Sie ertrug den Schmerz nicht und vergiftete sich mit Zyankali. So landete sie anonym irgendwo in einem Massengrab.
Nach endloser Odyssee fand der junge Claus seinen Vater in Norddeutschland wieder.

Ich erlaube mir einen Exkurs: zu den düsteren Erinnerungen meiner Kindheit gehören die zerbrochenen Männer an den Biertischen, die uns Vier- bis Sechsjährigen immer und immer wieder erzählten, wie „der Russ´“ ihre Kameraden massakriert habe, mit Gewehrkolben erschlagen, mit dem Flammenwerfer lebendig verbrannt; wie einer der Ihren, „e jung´s Bürschle“ mit einem Bauchschuss draußen lag und zwölf Stunden brüllte, bis er stumm wurde, „ond mir hent net rauskönnet ihm helfe, weil d´r Russ´ soofort mit´m MG, tack-tack-tack-tack-tack!“ Und, und, und…  – – Auf diese Weise kamen die Kriegsgräuel zu uns Kindern. Oft erschauderte ich nicht nur vor den beschriebenen Grausamkeiten, sondern auch vor dem ungeheuren Schmerz und Hass zugleich, die in diesen Männern wüteten, – die im Trauma gefangen seelisch längst vor die Hunde gegangen waren.

Claus ging einen anderen Weg, er griff sich das Leben mit beiden Händen und entschloss sich nicht nur, etwas daraus zu machen, sondern den Menschen zu geben, so viel er nur konnte. Tatsächlich hatte er am Ende seines Lebens vollbracht, was damals nur Wenigen gelang: den Schrecken eines Blutbads umzuformen in eine positive Kraft. Aus dem Leben alles herauszuholen, was es ihm zu geben bereit war. Das so Erworbene aber nicht für sich zu behalten, sondern es weiterzugeben an sein Publikum, das er so sehr liebte wie es ihn.

„Die Triebsublimierung ist ein besonders hervorstechender Zug der Kulturentwicklung, sie macht es möglich, dass höhere psychische Tätigkeiten, wissenschaftliche, künstlerische, ideologische, eine so bedeutende Rolle im Kulturleben spielen. Wenn man dem ersten Eindruck nachgibt, ist man versucht zu sagen, die Sublimierung sei überhaupt ein von der Kultur erzwungenes Triebschicksal. Aber man tut besser, sich das noch länger zu überlegen.“ So schreibt es Freud, und er meint letztlich damit, dass „niedere“ Instinkte und Regungen umgeformt – also erhöht – werden können zu gesellschaftlich anerkannten. Das mag so sein. Noch bewundernswerter allerdings ist ein Mensch, der schwerste Traumatisierungen aus seiner Jugend hinter sich lässt, ohne sie zu vergessen, und der den Beweis dafür liefert, dass man tatsächlich aus Dreck einen Tempel bauen kann.

„Peter Levine konnte zeigen, dass die traumabedingte Notfallreaktion des „Einfrierens“ (die letzte Überlebenschance, wenn Kampf und Flucht unmöglich sind) den Zustand der Handlungsunfähigkeit festschreibt, wenn nicht nach der Bedrohung eine abschließende Handlung möglich ist und damit die Wiedergewinnung der Handlungsfähigkeit (Motion). Hirnphysiologisch ist nunmehr die Einordnung des Geschehens auf der Zeitachse als vergangen möglich. Nun stehen auch wieder hirnphysiologisch jüngere Fähigkeiten zur Verfügung.“ (Ärztezeitung vom Oktober 2015).

Bei Claus Biederstaedt war nichts mehr eingefroren. Er hatte seine Handlungsfähigkeit ohne externe Hilfe zurückgewonnen, seine traumatischen Erfahrungen buchstäblich zu etwas Großem veredelt und eine tiefe, warme Heiterkeit zurückgewonnen. Ich vermutete, dass er diese Stärke in der Geborgenheit seiner frühen Jahre gefunden hatte. Und so führte ich diese Gedanken in meiner Ansprache zu seinem 90. Geburtstag aus und leitete gerade aus der Verarbeitung des Unverarbeitbaren seine Fähigkeit ab, sich der Buntheit des Lebens ohne jede Gier zuzuwenden und Menschen in wenig mehr als einem Atemzug für sich zu gewinnen. Offensichtlich funktioniert es dann, wenn zur Bewältigung noch Dankbarkeit kommt.

Als ich endete, blickte ich auf Claus, der neben mir saß, die Ellenbogen auf dem Tisch, sein Gesicht in den Händen, und er weinte wie ein Kind. Kaum hatte ich geendet, flog er mir tränenüberströmt in die Arme, und mir war, als würden all die Hilflosigkeit, die Verlassenheit, die Verzweiflung der damaligen Situation nun plötzlich in ihm lebendig. „So hat mich noch nie jemand beschrieben!“, schluchzte er, während er sein Gesicht an meiner Hemdbrust barg. Auch meine Stimme wurde ziemlich schwammig, und nicht zum ersten Mal spürte ich tiefe Dankbarkeit für diese Freundschaft.

Große Menschen erwachsen aus großen Belastungen und großen psychischen Leistungen. Vielleicht sind es gerade die emotionale Verflachung und die Vordergründigkeit unserer Zeit, die uns von Kultur bis Politik reichlich Mittelmaß bescheren und uns nur ganz selten noch Persönlichkeiten von überragender menschlicher Statur erwachsen lassen. Eine Gesellschaft von Bestandsverwaltern sind wir geworden.
Ich vermisse meinen Claus.

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