Als ich 2002 bei Lübbe meinen Roman „Trümmerkind“ veröffentlichte, bekam ich von der deutschsprachigen Presse solch begeisterte Kritiken, dass mir das Herz aufging. Angefangen hatte es mit einer regelrechten Hymne des ehemaligen SPD-Generalsekretärs Dr. Peter Glotz im Zürcher Tagesanzeiger, – eines der brillantesten Intellektuellen, die diese inzwischen nur noch seltsame Partei jemals hatte. Es folgten Rundfunk- und TV-Interviews, und Europas größte jüdische Website „hagalil“ feierte das Buch ebenfalls begeistert. In meiner Heimatstadt Fürstenfeldbruck allerdings war man nicht ganz so angetan: Nach 30 Jahren Bonn wieder frisch zugezogen, wurde ich mit einer Hetzkampagne der Lokalmedien begrüßt. Türschilder wurden am Haus abgerissen, der Zaun angekokelt, jede Nacht Flaschen aufs Grundstück geworfen; nicht lange, dann folgten anonyme Briefe und Telefonanrufe wenig geistvoller Art. Da sich auf das Ganze auch noch eine externe Nazi-Truppe draufsetzte, die sich durch den hagalil-Artikel „als deutsche Väter und Mütter beleidigt“ gefühlt hatte und mir androhte, ich würde demnächst „vom Baume hangen“, schaltete sich der Staatsschutz ein, und ich bekam umgehend einen Waffenschein. Jahrelang ging ich nur noch mit durchgeladener Beretta im Holster aus dem Haus, und nachts schlief ich mit der entsicherten Waffe griffbereit auf dem Nachttisch. – Man kann mich schon mal verletzen, aber auf die Knie kriegt man mich so nicht.
Eines der Kernelemente des Romans war, dass ich als kleiner Junge von einem Nachbarn gehört hatte, einem jüdischen Viehhändler in der Wirtschaft schräg gegenüber, den die SA abgeholt hatte. „Mei, den haben damals auch die Nazi mitg´nommen, da hat ma´ dann nix mehr g´hört. Des war halt damals so die Zeit.“ Was nicht weiter schlimm war, denn es war ja eh bloß „a Jud´“. – Tatsächlich kostete es mich enorme Mühe, herauszufinden, was geschehen war, und ich beschrieb es am Schluss meines Romans: Der Arme, der niemandem etwas zuleide getan hatte, hieß Picard. Er wurde von acht SA-Leuten unter Führung des SA-Hauptsturmführers Ertl festgenommen. Ertl war ein örtlicher Kohlenhändler, den seine Zeitgenossen als primitiv, dumm und extrem gewalttätig beschrieben, – also bestens geeignet für die SA. Er hatte frühzeitig die Gunst der NSdAP erworben, indem er an den Eingang seiner Kohlenhandlung ein Schild gehängt hatte: „Für Juden verboten!“ – In Fürstenfeldbruck gab es damals ganze drei (!) Juden.
Einer davon war der Viehhändler Picard. Die SA schleppte ihn in Ertls Kohlenhandlung, dort schlugen ihn die acht Mann volle neun Stunden lang mit ihren Gewehrkolben zusammen, bis er nur noch ein wimmernder, blutiger Fleischbrei war. Danach warfen sie ihn wie einen Kartoffelsack auf Ertls Lastwagen und fuhren ihn die Hauptstraße hinauf zum örtlichen Gefängnis in der Dachauer Straße, wo sie ihn über Nacht einsperrten. – Ärztliche Hilfe erhielt er selbstverständlich keine. Am nächsten Morgen verfrachteten sie ihn ins KZ Dachau, wo die SS ihn ermordete.
„Ja mei, so wie ma´ in den Wald hineinruft, so kommt´s auch wieder raus, ned wahr!“, erklärte mir ein alter Parteigenosse später einmal. „Wenn der Jud´ bloß amal mit´m Hetzen aufhört, dann tut ihm keiner was! Gar keiner! Aber er hört ja net auf mit´m Hetzen, da braucht er sich net wundern, dass der Hitler irgendwann amal narrisch worden is!“
Jedenfalls hatte ich in Fürstenfeldbruck eine gigantische Lesung, zu der man anfangs fünfzig bis siebzig Zuhörer erwartet hatte. Tatsächlich wurden es über zweihundertfünfzig, darunter der legendäre Herbert Riehl-Heyse von der Süddeutschen Zeitung, den ich für seinen geistvollen Schreibstil seit jeher bewunderte. Völlig zu Recht warfen mir danach ein paar Provinzpolitiker vor, ich würde „die Stadt polarisieren“. War ja auch der Sinn der Sache: die Kleinbürger und Ewiggestrigen waren wütend, die anderen dafür umso begeisterter. Als man dem örtlichen Theaterchef aus höchsten lokalpolitischen Kreisen mitteilte, „Mir macha dir dein Theater kabutt, wennst du ein Stück von dem spielst!“, zog ich es vor, die Stadt wieder zu verlassen.
Als kleinen Jungen hatte es mich unglaublich beschäftigt: Da holt man einen aus der Wohnung und macht ihn tot, ohne dass er was getan hat? Nur weil er „a Jud´“ war? Einer von dreien? Was soll an denen so schlimm gewesen sein? Oder war´s einfach „nur so“ gewesen, quasi zum Spaß? Es wollte mir nicht in den Kopf. Auch fünfzig Jahre später noch nicht. Ich versuchte mehr herauszufinden, aber niemand mehr kannte den Picard.
In einem kleinen Dorf im westlichen Landkreis lebte eine Tante von mir, die ich innigst ins Herz geschlossen hatte. Eine einfache, herzensgute Bauersfrau, die ein schlichtes und gottgefälliges Leben geführt und mit ihrem Mann fünf Kinder zu grundanständigen Menschen erzogen hatte. Sie strahlte eine solche Güte aus und nahm das Leben und auch den späteren Tod ihres Ehemannes mit solcher Demut, dass ich sie für die einzige Heilige hielt, der ich in meinem Leben begegnet war. So oft ich aus Bonn herunterkam, besuchte ich sie, und als ich wieder in der Heimat angekommen war, sahen wir uns fast jede Woche. Die inzwischen Siebenundachtzigjährige war fit wie ein Turnschuh, auch wenn der neunzigjährige Gatte sich kurz vor seinem Tod bei mir bitterlich beschwert hatte: In einem Moment der Unachtsamkeit habe sie zusammen mit einer Ladung Kartoffelschalen „meine Zähn´ ins Feuer einig´schmissen!“ Da wäre ich ja auch narrisch geworden.
Als ich wieder einmal bei ihr saß, um ihren herrlichen Aprikosenkuchen zum Kaffee zu vertilgen, kam mir plötzlich ein Gedanke. Konnte es sein, dass sie als junge Bauersfrau den Picard noch gekannt hatte? Bauern und Viehhändler, das war doch nicht ausgeschlossen? Ich gab mir einen Ruck und fragte sie.
„Ja mei, der Picard! Ja freilich hab i den ´kennt!“, lächelte sie selig. „Der hat ja als Einziger ein Auto g´habt!“ (In Fürstenfeldbruck gab es damals nur drei Autos.) „Da haben mir als Kinder immer mitfahren dürfen, – meiii, des war schööön!“ Selten hatte ich sie so strahlen gesehen. „‘Geh weiter, G´vatter!‘, hat er immer g´sagt! ‚Geh weiter, G´vatter!‘ Wenn er halt einen Handel machen wollt´. – – Mei, mir sind ihm als Kinder immer schon entgegeng´laufen, und dann hat er uns einsteigen lassen, und dann is er mit uns a bissl g´fahren. Da haben mir uns jed´s Mal soooo g´freut!“ – – Für mich war es ein tief ergreifender Moment: meine bisher nur auf Papier existierende Romanfigur war plötzlich zu einem richtigen Menschen geworden, und noch dazu zu einem richtig netten! Obwohl er ein Jud´ war. Da soll einer schlau werden, gell?
Da also saß die alte Tante Ernie mit ihrem zerfurchten Gesicht, gabelte auch ihr Stück Aprikosenkuchen und erzählte und erzählte und erzählte. Zwischendrin füllte sie mir den Kaffee nach und schaufelte mir ein weiteres Trumm auf den Teller. Ich mühte mich um Beherrschung, denn der Picard wurde lebendiger und lebendiger, und es war, als stünde er mitten bei uns im Raum. – Tat er aber nicht. In Dachau hatten sie anfangs kein Krematorium. Ich vermutete, sie hatten ihn mit anderen Ermordeten auf einen Haufen geworfen, Benzin drüber und angezündet. Zack-zack, so macht´s der Deutsche! Für jede Aufgabe eine Lösung!
Ich schalt mich einen Dummkopf, dass ich nicht früher darauf gekommen war, die alte Ernie zu fragen.
Dann war es still im Raum. Die Ernie saß, und an ihrem Gesicht ließ sich erkennen, dass glückliche Erinnerungen sie förmlich überfluteten. „Ja mei… des Auto vom Picard…“ seufzte sie verklärt. „Sooo schön war´s…!“
Mir steckte ein Kloß im Hals. „Weißt du, was die mit dem gemacht haben?“, fragte ich vorsichtig.
Sie schüttelte verständnislos den Kopf. „Wieso?“
„Weißt du nicht, dass der von der SA abgeholt wurde?“
Sie wand sich. „Ja mei… da hat ma´ schon amal g´redet… Aber nix G´naues hat ma´ ja nie g´hört…“
„Also, du weißt nicht, was mit dem passiert ist?“
„Hinaus´tan werden sie s´halt haben.“ Sie machte eine unbeholfene Handbewegung nach draußen. Irgendwo dort draußen, wo der Rauch vom Picard sich in der Luft verteilt hatte.
„Wo… hinaus, meinst?“
„Ja, ´naus halt! Da! ´naus!“ Wieder wedelte die Hand zum Fenster.
Ihre Züge hatten sich verändert, wirkten überfordert. Gerade so, als hätte ich an etwas gerührt, was unbedingt in Ruhe gelassen werden sollte.
„I versteh dich net.“
„Ja… naus halt! Naus… da, wo s´her´kommen sind!“
„Her´kommen ist er aus Fürstenfeldbruck. Aber da ist er nicht mehr.“
„Naaa…“, wand sie sich unbeholfen. „Da ´naus halt! Da wo s´halt her´kommen sind! Halt ´naus!“ Ihr Gesicht war aschfahl.
„Ach so, du meinst nach Israel?“
„Jaaa, freilich! Da sind s´doch her´kommen!“
„Damals gab´s noch kein Israel.“
Sie schaute mich verzweifelt an. „Also!“, sagte ich, und ich erzählte ihr alles, was ich wusste.
Als ich endete, war sie auf dem Stuhl zusammengesunken. Mehrmals bewegte sie mit verzerrten Zügen den Kopf hin und her. Dann sank ihr Kinn auf die Brust, und in ihrem Gesicht gingen Sturzbäche zu Boden, es schien überhaupt nicht mehr aufzuhören.
„O mei!“, seufzte sie schließlich. „O mei o mei o mei o mei!“
„Abwehr“, so beschreibt es der Berliner Psychosomatiker Prof. H.H. Studt, „ist die Gesamtheit der unbewussten psychischen Vorgänge, die vor gefürchteten oder verpönten Triebimpulsen oder Affekten schützen sollen. Grundsätzlich kann jeder psychische Vorgang und jedes Verhalten zu Abwehrzwecken benutzt werden. Außerdem verfügt das Ich über besondere unbewusste Verhaltensweisen, die sogenannten Abwehrmechanismen.“ Einer davon ist die Verdrängung, die sich auf die Zurückweisung von innen kommender Impulse richtet: Scham, Schuld, Schmerz zum Beispiel. Die Verdrängung konstituiere eine anfängliche Spaltung des Seelenlebens in die Bereiche des Bewusstseins und des Unbewussten, postuliert es Freud, so dass im psychoanalytischen Sinne das „Nichtwissen“ der Tante ein „Nichtwissenwollen“ darstellt. Nicht anders wird man wohl Ernies hilfloses und immer hektischeres Arme-Rudern deuten können: Der innere Druck wurde so stark, dass die zugrundeliegenden Erinnerungen und Gefühle förmlich „mit Händen zum Fenster hinausgeschoben“ werden sollten. – Denn Ernie wollte nur die positiven Erinnerungen an den Picard durchleben. Die anderen, – und offensichtlich hatte sie mehr gewusst, als ihr selber bewusst gewesen war, – hatte sie weggesperrt.
Alexander und Margarete Mitscherlichs Diktum von der „Unfähigkeit zu trauern“ reichte weit über die alte Ernie hinaus. Eine ganze Tätergeneration lebte nach dem Krieg das Motto „Tue Recht und scheue niemand!“. Wobei Recht tun bedeutete: Sich in das System kollektiver Verdrängung einzufügen und die psychischen Verheerungen kollektiver Täterschaft und kollektiver Bestürzung – über das Tatausmaß und über die Zerstörung des eigenen Landes als Brutstätte all dieser Perversionen – gemeinsam zu kompensieren. So entstand das Credo der deutschen Nachkriegszeit: Leistung!
In Fürstenfeldbruck gab es eine Lettow-Vorbeck-Straße, die erst 2009 umbenannt wurde, als man sich endlich damit auseinandersetzte, wie dieses Monstrum eines deutschen Militärs in Afrika gewütet hatte. Sie heißt jetzt „Zum Krebsenbach“. – Eine Picardstraße gibt es immer noch nicht. Die Mörder sind seit jeher attraktiver als die Opfer.
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