Über ausdruckslose Vorgesetzte.

Für Nella war es doppelt hart. Sie war eine quirlige, aufgedrehte und kontaktfreudige Anfangsvierzigerin, die gerne mit Menschen zu tun hatte und das auch zeigte. Ihrem Gegenüber begegnete sie mit einer warmherzigen Neugier, die auf echtem Interesse basierte und nicht bloß auf Förmlichkeit. – Was sie gab, erwartete sie allerdings auch zurück: Sie brauchte den Kontakt mit anderen, den verbalen und nonverbalen Austausch, irgendwie erinnerte sie an ein verspieltes Fohlen. Es konnte sie sehr kränken, wenn man ihre Zugewandtheit nicht erwiderte. Bisweilen war sie etwas anstrengend. Für die Serviceabteilung des mittelständischen Betriebs aber, in dem sie arbeitete, war sie ein Gewinn, denn die Kunden mochten ihre Art.
Umso mehr setzte ihr zu, dass ihr neuer Vorgesetzter Manfred, den man ihr zwei Monate zuvor als Serviceleiter vor die Nase gesetzt hatte, sie mit bemerkenswerter Kühle behandelte. Er reagierte auf nichts, schien sich für keine ihrer Freundlichkeiten zu interessieren, blieb abweisend und gab ihr bald das Gefühl, lästig zu sein. Nach der Verunsicherung folgten die Selbstzweifel.
„Ich frag mich ja die ganze Zeit, mach ich was falsch? Oder ist es einfach nur, weil der Typ Ingenieur ist, –  die sind ja immer so strohtrocken.“
Jedenfalls, die Selbstzweifel führten dazu, dass ihre Bemühungen um seine Aufmerksamkeit und Anerkennung sich noch steigerten, was zur Folge hatte, dass sie noch mehr Abfuhren kassierte als vorher. Ein bedenklicher Teufelskreis.

Irgendwann wurde ihr alles zu viel und sie verlor die Beherrschung. Die Szene, die sie Manfred hinlegte, war offenbar bühnenreif. Nur, er blieb völlig reaktionslos, und auch die Pralinen, die sie ihm tags darauf als Entschuldigung überbrachte, wies er mit einer spöttischen Bemerkung zurück.

Frohnatur Nella geriet ganz unversehens in eine tiefe Krise. Abweisung zu ertragen, ist immer schwierig und oft auch schmerzvoll. Sie allerdings erlebte das als umfassende Entwertung: nichts, was sie ansonsten liebenswert machte, zählte mehr.

Es fiel jedoch auf, dass sie damit auch ein unbewusstes eigenes Problem inszenierte: Sie hätte Manfreds Interesselosigkeit zur Kenntnis nehmen und sich damit einrichten können. Stattdessen steigerte sie sich so sehr hinein in ihren Wunsch nach Annahme und Anerkennung, dass sie auf mich völlig verrannt wirkte. Über Umwege hatte sie mitbekommen, Manfred führe privat ein zurückgezogenes Leben ohne Partnerin und Freundeskreis. Er schien an nichts Anteil zu nehmen.

„Der muss doch was ändern! Der kann doch nicht so leben!“ waren die Umschreibungen ihres eigenen Interesses daran, sich als seine verändernde Kraft und als Befreierin zur Geltung zu bringen. Ein Ansinnen, das ihr nicht einmal ansatzweise zustand. Der naheliegende Verdacht, sie sei in ihn verliebt, bestätigte sich nicht. Vielmehr ging es erkennbar auch hier darum, wahrgenommen zu werden und Anerkennung für das eigene Engagement zu erfahren.

Menschen mit einer schizoiden Persönlichkeitsstörung sind schwierig im Umgang. Annäherung bedeutet ihnen Auslieferung, Kontakt ist für sie gleich bedeutend mit Selbsthingabe, und all diese Vorstellungen lösen massive Ängste aus. Denn in Wirklichkeit sind solche Menschen hochsensibel, leicht und tief verletzbar, und damit ständig auf der Suche nach Absicherung. In aller Regel haben sie schon als Kleinstkind Zustände hilflosen Ausgeliefertseins erlebt. „Seine mitmenschliche Ungeborgenheit und Bindungslosigkeit, sowie das aus ihnen resultierende Misstrauen, lassen den schizoiden Menschen die Annäherung eines anderen als Bedrohung erleben, die er zuerst mit Angst, der sofort die Aggression folgt, beantwortet.“ (Fritz Riemann). Manfreds spöttischer Kommentar zu den Pralinen spricht Bände.

Diese Menschen wirken nach außen hin gleichgültig und gefühlsarm, desinteressiert und unnahbar, und sie verletzen häufig schon durch ihre Interesselosigkeit, mit der sie alles Menschliche an sich abprallen lassen. Sie haben es nie gelernt, sich zu anderen Menschen in Bezug zu setzen und sich Gedanken über die Gefühle des Gegenübers zu machen. Im Gott sei Dank seltenen Extremfall sind es die kalten Triebmörder, die ihre Opfer ohne alles Mitgefühl zu Tode quälen.

Je mehr man also auf sie zugeht, desto mehr verschließen sie sich. Je persönlicher man wird, indem man etwa von sich selber erzählt, desto unwohler fühlen sie sich. – Nellas Bemühungen waren somit die glatte Kontraindikation für einen Menschen mit Manfreds Struktur. Am besten nämlich hält man respektvolle Distanz und bleibt streng sachlich, wenn man wenigstens einigermaßen mit Schizoiden klarkommen will. Häufig finden sie sich im Bereich des Plan- und Berechenbaren, also Wissenschaft, Technik und Verwaltung: Das emotionslose Abarbeiten ist ihre Stärke, da macht ihnen niemand etwas vor.

„Aber der muss doch…“ protestierte Nella.
„Der muss gar nicht. Und er wird auch nicht.“
„Ich kann mir sowas nicht vorstellen!“
„Versuchen Sie besser nicht, ihre innere Welt auf die Außenwelt zu übertragen. Die spielt da meist nicht mit.“

Aber was war los mit Nella? Auffallend war ihr Hunger nach Wahrgenommen-Werden und Anerkennung ihrer lauteren Absichten, der sich allein aus Manfreds Verhalten heraus nicht erklären ließ. Über längere Zeit wehrte sie entsprechende Fragen ab: „Soll ICH jetzt auch noch schuld sein?“
Also war auch Schuldabwehr ein Thema.
Es dauerte lange, bis sie redete.

Als Siebenjährige hatte Nella ihre Mutter verloren in einem Autounfall, den der Vater als Fahrer verursacht hatte. In einem Strafprozess, den er als zutiefst unfair empfunden hatte, war er zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Danach hatte er sich verbittert in sich selbst zurückgezogen und war auch für seine kleine Tochter unerreichbar geworden. – Mehr noch: Je intensiver sie um ihn warb, desto schroffer ließ er sie abperlen. In kindlicher Unschuld hatte Nella immer wieder versucht, ihn mit ihrer Wärme und Herzlichkeit für sich zu gewinnen, war aber immer wieder an der harten Schale ihres Vaters gescheitert. – Es erklärte zugleich, woher Nellas aufgedrehtes „Naturell“ stammte: ein verzweifelter Versuch, mit der eigenen Trauer und Verlassenheit klar zu kommen und sich das vom Vater Verwehrte anderwärts zu organisieren. Man sollte die Findigkeit von Kindern niemals unterschätzen.

Nella also konnte Manfred nicht verändern. Es gelang ihr aber, die Hintergründe ihres eigenen Verhaltens zu verstehen. Sie wurde nicht nur ruhiger und damit etwas weniger anstrengend für ihre Umgebung. Sie lernte auch, sich nun als Erwachsene die Anerkennung und Wertschätzung etwas realitätsadäquater zu verschaffen. Ihr Kontakt zu Manfred ist sachlich geworden, wobei er sich allerdings gelegentliche Schroffheiten leistet. Bei schizoid strukturierten Persönlichkeiten ist das oft ein hilfloser Ausdruck persönlichen Interesses, ein verstecktes Werben also. Ich hielt es für sinnvoll, Nella nicht darauf hinzuweisen.

Copyrights © 2024 Alle Rechte vorbehalten.
Webseite: websitearchitekten.de
Stay Connected:
Copyrights © 2017 All Rights Reserved
Website: websitearchitekten.de