Über Tür und Anus.

Wer der Grausamkeit des Lebens noch nie begegnet war, der brauchte nur Gottfrieds Miene zu studieren, wenn der etwas nicht bekam, worauf er ein Auge geworfen hatte. Meist ging es ja um Geld, denn Gottfrieds sabbernde Geldgier galt allgemach als Ärgernis und hatte ihm viele Feinde geschaffen, da er seine Ziele mit pedantischer Rücksichtslosigkeit verfolgte, ohne sich derer überhaupt bewusst zu werden. Als leitender Beamter eines Bundesministeriums hatte er eine spezielle Denkweise entwickelt: Es ist ein „Titel“ da, – also ein Budgetposten -, und jetzt muss ich schauen, wie ich da rankomme, denn der Dienstherr hat mir gegenüber eine Fürsorgepflicht. Wobei die Findigkeit einer Begründung stets die Sinnhaftigkeit der Maßnahme ersetzte.

Da er auch im privaten Kreise die Leute damit schikanierte, dass er an irgendetwas, das sie besaßen, speichelndes Interesse entwickelte und dann mit einer Serie absurdester quasi-amtlicher Begründungen darauf bestand, es müsse jetzt aber ihm gehören, schüttelte man oft genug den Kopf über ihn. Jedenfalls, scheiterten seine Anstrengungen jemandem etwa ein teures Gartengerät zu einem lächerlichen Preis abzuschwatzen, dann vollzog sich eine seltsame Verwandlung mit ihm: Seine Züge verzerrten sich im Ausdruck tiefsten menschlichen Leids, die Mundwinkel schnellten dramatisch abwärts, bis sie sich am Kinn wieder schlossen, die Augen versprühten fassungslose Trauer, und der ganze Mann versank im Urschlamm eines nackten Schmerzes, wie nur die Elendsten und Unglücklichsten auf dieser Erde von ihm getroffen werden. Es war ein Sturz in die dunkelsten Schluchten menschlicher Hoffnungslosigkeit, gepaart mit hilflosem Unverständnis darüber, dass Klein-Gottfried etwas haben-haben-haben wollte und man es ihm einfach nicht gab.

Dann allerdings gab er nicht etwa auf, sondern er erhob sich aus seinem Unglück, ächzend wie ein soeben Niedergeschossener, nur um seine Bemühungen jetzt auf das Heftigste zu steigern. Starr wie eine hängen gebliebene Schallplatte löcherte er einen nunmehr mit der ständig gleichen Begründung, Runde um Runde wortgleich herabgebetet, verbal und mimisch identisch bis zum letzten Komma. Schnell gewann man den Verdacht, dass es ihm um irgendetwas anderes gehen musste, und dass das Objekt seines wilden Begehrens nur ein Ersatzobjekt war, denn sonst hätte er irgendwann seinen Frieden gefunden.

Mit den Mitteln, die die Regierung seit jeher anlasslos an ihre Beamtenschaft verteilt, hatte Gottfried sich in einer deutlich besseren Gegend ein Eigenheim in Höhenlage gebaut, das er als elegant verstand, man war schließlich wer. Da seine Rücklagen und die Bundesdarlehen nicht ganz ausgereicht hatten, hatte er sich, von seinem Vorteilsinstinkt gesteuert, die fehlende Summe von seinen Schwiegereltern organisiert, allerdings um den Preis von deren lebenslänglichem Wohnrecht im Obergeschoss. – Anders gesagt: Geld war wichtiger als Frieden. Denn Schwiegervater Ernst, ehemaliger Vorstand einer öffentlichen Körperschaft, war herrisch, laut und rechthaberisch, das Leben mit ihm und gegen ihn keinerlei Vergnügen, und Gottfried setzte ihm seine eigenen Prinzipien nicht minder holzköpfig entgegen. – Es wurde nach gebotener Trauerphase als Segen betrachtet, dass Ernst das Zeitliche bald segnete, ohne seine Investition gebührend abzuwohnen.

Jedoch, es verblieb seine Witwe Hertha, eine lebenslange höhere Berufsgattin und eine nicht minder laute Person, die außer sich selbst und ihren nichtssagenden Problemen nichts und niemanden zur Kenntnis nahm und aufgrund ihres lauten und blechernen Organs den Spitznamen „Posaunencorps Bad Godesberg“ genoss. Tatsächlich war sie mühelos imstande, ein Ferngespräch mit Dnjepropetrowsk ohne Telefon zu führen. Somit, insgesamt, war Gottfrieds geregeltem beamtischem Daseinsglück nichts mehr in den Weg gelegt: Alles hatte seine Ordnung, selbst wenn diese zur Unordnung führte.

Der Mensch braucht Ansprache. Da Witwe Hertha derer nun nicht mehr teilhaftig wurde, erzwang sie sich diese eine Etage tiefer bei Tochter und Schwiegersohn. Die hatten sich, in einer Art komfortorientierten Triebdurchbruchs und unter Verletzung üblicher geordneter Daseinsprinzipien, angewöhnt, den Wohnungsschlüssel außen an der Etagentür stecken zu lassen, um sich das Ein und das Aus zu erleichtern. Immerhin war man ja Hauseigentümer.

Rein von der Faktenlage her also war alles gegeben, um Haus, Leben, Ehe und die verfassungsrechtlich geschützten „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“ zu genießen. Witwe Hertha jedoch, in ihrem unerbittlichen Kommunikationsdrang, betrachtete die Wohnungstür im Erdgeschoss nicht etwa als Mahnung zum Respekt vor der ehelichen Zweisamkeit, sondern vielmehr den außen steckenden Schlüssel als Einladung sich die menschliche Besitzergreifung so einfach wie möglich zu machen.

„Ich-fasse-es-nicht: Ich stehe in Hemd, Unterhose und Socken in der Diele. Aber mit Krawatte! Da geht die Tür auf und die kommt einfach herein. Und fängt sofort an loszuquaken. Unerhört!“
„Hast du sie nicht gebeten, vorher zu klingeln?“
„Macht sie nicht. Weigert sie sich stur.“
„Mal freundlich mit ihr reden?“
„Du kennst sie doch.“ Langes Seufzen. „Aber wenigstens wohnst du nicht mit ihr.“
„Lieber erschieß ich mich.“
„Den Ausweg hättest du, aber nicht ich.“
„Weitergehende Maßnahmen würde ich gerne empfehlen, wenn unsere Rechtsordnung dem nicht entgegenstünde.“, grinste ich schief.
„Wenn du wirklich mein Freund bist, dann stiftest du mich jetzt an!“

Es dauerte nicht lange, bis die zu erwartende Eskalation sich manifestierte.
„Kannst du dir vorstellen, am Samstagnachmittag liege ich …öhmmmm…. nun ja…. mit Ursel…öhmmm… wir hatten uns nochmal hingelegt, nicht wahr….
„War der Monat schon wieder rum?“, grinste ich.
„Da hören wir, wie die Wohnungstür aufgeht, und dann steht sie in der Diele und bellt unentwegt den Namen meiner Frau!“
„Und?“
„Nun ja, öhmmm… ich, äh, … wir waren nicht in der… öhmmm…. Stimmung zu antworten.“
„Du antwortest deiner Schwiegermutter nicht? Hast du überhaupt noch ein Herz im Leib?“
„Ich erwarte Verständnis von dir! – – – Jedenfalls, stell dir vor, stellt die sich glatt vor unsere Schlafzimmertür und ruft andauernd ‚Ursel! Ursel!‘. Und dazu hämmert sie fortwährend mit der Faust gegen unsere Tür! Bis meine Frau endlich nachgab und sich nach draußen bemühte!“
„Und warum zieht ihr draußen nicht einfach den Schlüssel ab?“
„In meinem Haus? Soweit kommt´s noch!“

Es darf hoffnungsfroh davon ausgegangen werden, dass die Konstellation erfreulich viel Eskalationspotential besaß, und dass dieses sich in jeder denkbaren Form realisierte. Ich verfolgte es mit Genuss, auch wenn ich Gottfrieds Bitte um leihweise Überlassung einer großkalibrigen Waffe abschlägig bescheiden musste. Er weigerte sich, in seinem Haus den Wohnungsschlüssel abzuziehen; Hertha weigerte sich, in ihrem (!) Haus bei der eigenen Tochter zu klingeln. Jedenfalls, „solange noch ein Euro von mir(!) in diesem Haus steckt!“ Und damit anteilsmäßig, wie sich leicht errechnen lässt, in dem fraglichen Wohnungsschlüssel, den sie füglich als ihr Teileigentum betrachtete. Gottfried beklagte sein Leid bei mir; Hertha beklagte ihr Leid bei meiner Frau; Ursel litt still und, da streng und autoritär erzogen, wusste sie nicht, wem ihre Loyalität in dieser Tragödie zu gelten hatte. Jedenfalls: Je älter Hertha wurde, desto impertinenter wurde sie auch. Aber da eine Hausherrenposition nicht zuletzt eine Frage der Prinzipien ist, blieb der Schlüssel gnadenlos, wo er war. Bis Hertha eines Tages nicht mehr war. Ursel betrauerte sie aufrichtig, Gottfried, dessen stadtbekannter Reproduktionseifer unter Hertha erheblich gelitten hatte, nur pflichtgemäß und voller Ingrimm.

Es ist leicht zu sehen, dass hier zwei Zwanghafte – oder mit Ursel gerechnet, sogar drei – einander ins Gehege gekommen waren. Nach wie vor gelten Geldgier, Pedanterie und Sturheit als die Trias der zwanghaften Störung. Das unerbittliche Beharren des Zwanghaften auf einmal als richtig „erkannten“ Standpunkten macht das Leben mit ihm alles andere als einfach. Aber für den Zwanghaften ja auch nicht gerade: Er erlebt den Mangel an Verständnis für seine doch so lobenswerte Prinzipientreue als besonders unverdient, denn selbstredend erwartet er Anerkennung für seine Standfestigkeit. Bleibt sie aus, wird er nur noch standfester, wo kämen wir denn sonst hin?

„Man wird an Meinungen, Erfahrungen, an Einstellungen, Grundsätzen und Gewohnheiten eisern festhalten und sie nach Möglichkeit zum immer gültigen Prinzip, zur unumstößlichen Regel, zum ‚ewigen Gesetz‘ machen wollen.“, schreibt Fritz Riemann in seinem Klassiker „Grundformen der Angst“ über den Zwangscharakter, denn es gehe „nicht um Objektivität, sondern um die Rettung einer festgehaltenen Einstellung, die nicht erschüttert werden darf.“ Und der Klassiker Wilhelm Reich führt diese Form seelischer Erstarrung auf die zu frühe Reinlichkeitserziehung zurück. Es entwickele sich „ein mächtiger analer Trotz, der zu seiner Verstärkung die sadistischen Antriebe mobilisiert.“ – Nun ja, so sind sie wohl: Konsequent in der Erstarrung, die das viel zu frühe Zusammenkneifen des kindlichen Anus ihnen aufgezwungen hat. Gnade einem Gott, unter solch einem Vorgesetzten oder mit solch einem Kollegen arbeiten zu müssen. – Gottfried wurde später übrigens Staatssekretär.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Copyrights © 2024 Alle Rechte vorbehalten.
Webseite: websitearchitekten.de
Stay Connected:
Copyrights © 2017 All Rights Reserved
Website: websitearchitekten.de