Über Einsamkeit und Verzerrung.

In einer zweiwöchigen Sommer-Expedition hatten wir uns auf Tor´s kleiner „Baksen“ die Westküste von Spitzbergen Richtung Norden vorgearbeitet. Gegen eine ziemlich kabbelige See waren wir durch den Forland-Sund getuckert, und die kurzen, harten Wellen hatten mich so seekrank gemacht, dass ich mich erfolgreich um die Weltmeisterschaft im Spontanreihern beworben hatte. Schließlich hatten Tor und Kjell sich meiner erbarmt und mir fünf seasick-pills verpasst, zusammen mit zwei Dosen „Hansa Pilsener“. Es beruhigte nicht nur meinen Magen, sondern ließ mich so angenehm blöde werden, dass ich mit ziemlich schwurbeliger Birne drei Tage unter Deck verdöste. Wobei ich alle zwanzig Sekunden mit dem gesamten Körper in die Luft flog und dann wieder hart auf die Koje knallte, wenn uns eine der sechshunderttausend betonharten Wellen entgegenkam, die der Nordatlantik heute extra für mich reserviert hatte. Irgendwann spürte ich jedes einzelne meiner inneren Organe in mir hin- und herfliegen, als ob man eine fast ausgeleerte Keksdose schüttelte. Aber da ich ziemlich ausgeknockt war von der Spezialmischung meiner Freunde, war mir das alles ziemlich wurscht.

Im St.-Jons-Fjord entdeckten wir eine Hütte, bei der ein Eisbär die Eingangstür und das halbe Fenster herausgerissen hatte, offenbar auf Nahrungssuche. Auf Sarstangen, einer schmalen Landzunge im nördlichen Forland-Sund, fanden wir den Unterkiefer eines Wals: Dreieinhalb Meter lang und gute zweihundert Kilo schwer. Wir hatten zu dritt einige Mühe, ihn so aufzurichten, dass Tor mit ihm für ein Foto posieren konnte. Anschließend tuckerten wir den Kingsfjord hinein und besuchten das legendäre Ny-Alesund, damals eine Geisterstadt mit zwanzig Bewohnern, deren ursprünglich mehrere hundert Einwohner sie 1963 nach einer Serie tödlicher Grubenexplosionen verlassen hatten. Am Rand der Siedlung posierte ich für ein Foto neben dem Ankermasten, von dem aus Roald Amundsen 1926 mit seinem Zeppelin „Norge“ als Erster den Nordpol erreicht hatte; zwei Jahre später war Umberto Nobile von hier aus mit dem Zeppelin „Italia“ zu seiner dramatisch gescheiterten Nordpol-Expedition gestartet, an deren Ende ein Toter sowie sieben Vermisste zu beklagen waren und Nobile von Mussolini öffentlich gedemütigt und aus Italien verbannt wurde.

Wir hielten weiter nordwärts zum Krossfjord, wo die Deutschen im 2. Weltkrieg eine geheime Wetterstation betrieben hatten, und nahmen Kurs auf die Mitra-Halbinsel. In der Ebeltoft-Lagune warfen wir Anker und gingen mit unseren Rucksäcken an Land. Es wurde ziemlich anstrengend, den Scoresbyfjell zu überqueren. Bei unserem Abstieg über ein mächtiges Geröllfeld auf dessen Westseite schreckte mich lautes Wasserrauschen aus meinen Gedanken, und ich fand eine ganze Serie gähnender Gletscherspalten neben und vor mir: Ohne es zu ahnen, überquerten wir ein ausgedehntes Gletscherfeld, das sich unter dem Geröll versteckte. Endlich auf dem schmalen Küstenstreifen angekommen, passierten wir ein Kilometer langes Areal von Polygonen, – einer Art riesigem Netzmuster, das die Natur im Laufe von Jahrtausenden in den arktischen Boden gezeichnet hatte. Manchmal wippten kleine Blumen in der Mitte eines Polygons. Man scheute sich dann hineinzutreten, weil es aussah wie ein Grab. Es war unheimlich.

Ziemlich geschlaucht erreichten wir die kleine Hütte am Dieset-Fluss, um dort ein paar Tage zu verweilen. Achtzig Grad Nord. Absolutes Ende der Welt. Nur noch tausend Kilometer bis zum Nordpol. – Einen einsameren Platz konnte man sich kaum vorstellen. Im Hüttenbuch berichtete einer über einen angreifenden Eisbären, vor dem der offenbar unbewaffnete Schreiber sich in letzter Verzweiflung auf das Hüttendach gerettet hatte, um stundenlang auszuharren, bis das Vieh sich endlich verzog. Ich schlief ziemlich unruhig und schob meinen Revolver unter meinen zum Kopfkissen gerollten Pullover, denn Tor ließ beim Schlafen grundsätzlich die Hüttentür offen wegen der frischen Luft.
„What about the polar bears? “, hatte ich sorgenvoll gefragt.
„He is one, and we are dree, hohoho!“

Der arktische Sommertag dauert volle vier Monate. Blauer Himmel und strahlende Sonne rund um die Uhr tauchten das Land für uns in ein Licht, wie ich es nie wieder zu sehen bekommen habe. Zusammen mit der absoluten arktischen Stille geht ein unbeschreiblicher Zauber von dieser verlorenen Landschaft aus, die kaum je ein Mensch zu Gesicht bekommt.
„Wir gehen Lachse fangen im Dieset-See. Willst du mit?“, fragte Kjell mich am nächsten Morgen und reichte mir die obligatorische Bierdose zum Frühstück.
Doch ich wollte den Tag hier alleine verbringen. Nur ich und diese wahnsinnige Landschaft. Und diese wahnsinnige Stille. Es hatte etwas von endgültiger Verschmelzung für mich.
Die Jungs griffen sich ihre Fangnetze und zogen ab.

Ich griff mir meine Waffe und strich neugierig die Uferlinie entlang, studierte das Spiel der Wellen, die wundersamen Felsformationen, die der Fluss in die Landschaft geschnitten hatte, die hingehauchte Sommervegetation, von der eine unbeschreibliche Zartheit ausging, die Vögel, die umtriebig den Himmel durchpfeilten und blitzschnell aufs Meer hinabschossen, setzte mich auf einen Felsen und schaute sinnend auf die schwer atmende Wasserfläche. – Wer meint, dieser Planet sei ein Haufen toter Materie, der irrt. Wir haben nur noch nicht die Zusammenhänge begriffen.

Auch im Sommer schneidet der Wind der Arktis einem wie ein Messer ins Gesicht. Er saugt einem die Körperwärme heraus, ohne dass man es merkt, und plötzlich friert man wie ein Hund. Nach drei Stunden kehrte ich mit klammem Gesicht in die Hütte zurück, holte mir Wasser aus dem Fluss, entzündete den Benzinbrenner und kochte mir Tee. Gerade goss ich das kochende Wasser über die Teebeutel, als ich draußen ein sich überschlagendes Brüllen hörte: „Hiiiiilfeeeeee!“ Auf Deutsch.

Scheiße, Scheiße, Scheiße, schoss es wie eine Stichflamme in mir hoch. Da läuft irgendwas gründlich schief, und die Jungs sind beim Fischen! – Ich griff mir meine Smith & Wesson und stürzte vor die Hütte. Man kann sich so eine Situation nicht vorstellen: Mein Herz hämmerte mir so hochfrequent im Hals, dass ich fürchtete, die Halsarterien würden sich jeden Augenblick verabschieden. In meinem Hirn hämmerte unentwegt der Gedanke: Muss ich jetzt töten? Ich riss mich zusammen.

Vor der Hütte war niemand.

Ich spähte kilometerweit in die Ferne, umrundete die Hütte, dreht mich mit vorgehaltener Waffe in alle vier Himmelsrichtungen: selten hat jemand so viel Nichts gesehen. Ich erklomm den Hackstock neben der Hüttentür und schaute von dort aus rundum, stets schussbereit: Plenty of nothing. Silence. Und wenn du dich noch so aufregst, da ist keiner.

Sauber, dachte ich mir. Dreihundert Kilometer von der Zivilisation entfernt. Völlig alleine am Arsch der Welt. Mit meiner 357 Magnum in der Hand. Eben dabei verrückt zu werden. Besser geht´s ja kaum. Junge, Junge.
Zutiefst konsterniert zog ich mich in die Hütte zurück und goss mir Tee ein. Er war versalzen, denn ich hatte das Wasser zu nahe an der Meeresmündung aus dem Fluss geholt. Als zwölf Stunden später die Jungs hochzufrieden vierzig Kilo frischen Lachs aus ihren Rucksäcken leerten, verschwieg ich ihnen mein seltsames Erlebnis. Für den Rest der Expedition fütterten sie mich mit Lachs, bis er mir zu den Ohren herauskam.

Dreißig Jahre später hatte ich eine Coaching-Klientin namens Claudia, die sich nicht mehr gegen einen Untergebenen zu wehren wusste. Der Mann behandelte sie ohne jeden Respekt, ließ keine Dreistigkeit aus und schüchterte sie nach Strich und Faden ein. Sie war Mitglied der Geschäftsleitung, der andere lediglich Werkstattleiter, doch etwas in ihr machte „Klick!“, sobald er auf sie zutrat, und sie fühlte sich wie erstarrt. In einer langen Reihe von Sitzungen weinte sie oft bitterlich, und langsam schälte sich heraus, dass hinter dem beschriebenen Geschehen ein sehr alter und sehr tiefer Schmerz liegen musste, der sich über die aktuelle Situation einfach drüberschob. Es ging etwas anrührend Hilfloses und Ausgeliefertes von ihr aus, – die nonverbale Kommunikation eines angsterfüllten kleinen Mädchens. Nach weiteren Gesprächen bestätigte sich meine Ahnung, dass sie als Zehnjährige über längere Zeit von einem Familienangehörigen vergewaltigt worden war. Er hatte sie jedes Mal hinterher noch geohrfeigt, um sie so einzuschüchtern, dass sie den Mund hielt. – Sie war Mitte Fünfzig jetzt, und es war das erste Mal, dass sie überhaupt jemandem davon erzählte. Denn sie hatte die Erinnerung abgekapselt, um nicht mehr daran denken zu müssen.
Ich erzählte ihr mein Erlebnis in der Arktis.

„Also haben Sie jemanden schreien gehört, der gar nicht da war?“
„Genau wie Sie.“
„Himmel, wie kommt so etwas zustande?“
„Die menschliche Neurologie braucht einen Mindest-Input, um normal arbeiten zu können. Bekommt sie den nicht, fängt sie wie ein Motor an zu spotzen.“
„Ich verstehe Sie nicht?“
„Es war absolute Stille. Mein Gehirn war unterfordert. Aber wenigstens gab es ein paar Minimalgeräusche wie den Wind und das Klickern einiger Wellen, die fernen Flügelschläge der Vögel. In solch einem Fall müht das Gehirn sich verzweifelt, aus diesem Gebräu irgendetwas zusammenzubauen, – egal was. Meines behauptete, hier würde jemand um Hilfe schreien, nur um irgendein Ergebnis abzuliefern.“
„Ist das denn immer so?“
„Yip. Nach Bandler/Grinder ist es der zweite Wahrnehmungsfilter, genannt ‚Verzerrung‘, englisch distortion. Wenn das Gehirn etwas wahrnimmt, muss es das unter allen Umständen identifizieren, sonst gibt es einfach keine Ruhe.“
„Weil sonst..?“
„Denken Sie an unsere tierischen Wurzeln: Ein Tier muss wissen, ob etwas Fremdes etwa Beute ist oder Fressfeind. Es kann sich Unklarheiten nicht leisten, die könnten tödlich sein. Dieser Filter ist einer unserer ältesten und kompromisslosesten überhaupt.“
„Und Sie dachten, Sie seien dabei wahnsinnig zu werden?“
„Es schien mir das Nächstliegende.“

Der freche Untergebene, so stellte sich heraus, hatte von Körpersprache, Mimik und Tonalität her Signale gegeben, die tief in Claudias Unbewusstem alte, tief verschlossene Erinnerungen getriggert hatten. Ihre Verzerrung hatte die Signalität des Werkstattleiters identifiziert, indem sie diese in ein bekanntes Muster einordnete: das des Vergewaltigers. Die Aktivierung dieser verdrängten Erinnerung hatte die Gesamtheit ihrer damaligen Ängste wieder anspringen lassen, einschließlich der hilflosen Erstarrung, die sie während des Vergewaltigungsaktes verspürt hatte. Ich riet ihr dringendst zu einer Traumatherapie bei einer Fachärztin, der sie sich zügig widmete. Den aufmüpfigen Werkstattleiter mahnte sie mehrmals ab und warf ihn schließlich hinaus.

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