Über Job und Selbstwerdung.

Wenn man wissen will, wie es jemandem geht, braucht man eigentlich nur auf den Unterlidtonus zu sehen: ist er schlaff und hängen die unteren Augenlider nach unten, so ergibt sich ein müder und niedergeschlagener Gesichtsausdruck, der den Verdacht einer depressiven Episode, verbunden mit einer ernsthaften Lebenskrise, rechtfertigt. Optimistische und positiv gestimmte Menschen bieten dieses äußere Bild nicht, – von normalen Alterungserscheinungen der Haut einmal abgesehen. Hinzu kommt die Körpersprache: müde und verlangsamte Bewegungen, beschwerliches Aufstehen aus der Sitzposition, denn alles, alles fällt auf einmal so schwer. Die hinter der Fassade liegenden Gefühle tun ein Übriges: Hoffnungslosigkeit, Untergangsphantasien, Lebensmüdigkeit.

Wer meint, Depression sei eine private Angelegenheit, deren Diskussion im Job nichts zu suchen habe, der liegt gründlich schief: Im Zeitraum von 1 Jahr (!!!), so das Statistische Bundesamt, leiden 12% der deutschen Allgemeinbevölkerung zwischen 18 und 65 Jahren unter einer sogenannten affektiven Störung, also einer mehr als normalen emotionalen Verstimmung. Das sind pro Jahr fast 6 Millionen Menschen in unserem Land (sog. 12-Monats-Prävalenz). Auf die Gesamtlebenszeit gerechnet, geht  das Statistische Bundesamt sogar – konservativ gerechnet – von einer Lebenszeitprävalenz von 19% aus (Frauen: 25%; Männer 12%). Werden wir Deutschen also zu einem niedergeschlagenen, resignierten Volk? Verlieren die Menschen in unserem Land millionenfach den Lebensmut? Welche politischen Auswirkungen hat das? Es wäre höchste Zeit, hier ein paar ernste Fragen zu stellen, aber die Politik ist ja mit anderem beschäftigt.

Offensichtlich sind die gesellschaftlichen Verhältnisse unseres Landes inzwischen so, dass ein Viertel der Frauen und ein Achtel der Männer psychische Überforderungssymptome zeigen. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Wobei nicht in Frage zu stellen ist, dass Lebensereignisse wie z.B. der Verlust eines Partners, Tod eines Angehörigen, Jobverlust oder wirtschaftlicher Absturz entsprechende seelische Folgen verursachen, so dass mit einem gewissen Prozentsatz schlechthin immer zu rechnen wäre. – Aber in dieser Höhe? Hier läuft etwas schief, und zwar dramatisch.

„Wenden wir uns nun der zweiten Grundform der Angst zu, der Angst, ein eigenständiges Ich zu werden, die zutiefst erlebt wird als das Herausfallen aus der Geborgenheit.“ So schreibt es der Psychoanalytiker Fritz Riemann in seinem Klassiker „Grundformen der Angst“, der inzwischen knapp eine Million mal über den  Ladentisch gegangen ist. Und er konstatiert, die Ursache der Depression sei die „Angst vor der Selbstwerdung“. Was ist damit gemeint? Psychologengeschwurbel? Oder doch eher die nüchterne Feststellung, dass jeder Mensch und jede Menschin auf die Welt kommen mit einer psychophysischen Grundausstattung, die die Blaupause ist für ihren „immanenten Lebensentwurf“ (so der Freud-Schüler Carl Gustav Jung). Aus einem geborenen Handwerker lässt sich kein Konzertpianist machen und aus introvertierten Physik-Theoretikern keine Metzgermeister. Heißt: Es ist in erheblichem, wenngleich nicht vollständigem,  Maße durch die körperlich-seelischen Tatsachen vorprogrammiert, welche Eigenschaften und Neigungen, aber auch welche Erwartungen an das Leben ein Mensch (aus-)zuleben hat. Dabei werden solche Neigungen unbewusst erlebt: Die Liebe zur Rockgitarre lässt sich ebenso wenig rational begründen wie die Leidenschaft, Schilddrüsen zu operieren. – Da zieht etwas Dunkles, Unbekanntes: Der „immanente Lebensentwurf“, angereichert durch eigenes Erlebtes und frühkindliche Prägungen, die entweder motivieren oder hemmen, je nachdem.

Und möglicherweise liegt hier die tiefere Ursache der Massendepression: Haben wir einen gesellschaftlichen Zustand erreicht, der bei Millionen von uns die Selbstwerdung verhindert? Der uns das „Herausfallen aus der Geborgenheit“ erleben lässt? Oder etwas ketzerisch gefragt: Haben sich in unserem Arbeitsleben Methoden eingenistet, die nicht nur eine beträchtliche Kühle vermitteln, sondern deren rigide Umgangsformen gegenüber Menschen diese so massiv entwerten und unter Angstdruck setzen, dass sie sich teilweise bis zur Selbstverleugnung deformieren? Dass also im Berufsleben, das ja eigentlich persönliche Erfüllung ermöglichen sollte, die Riemann´sche „Selbstwerdung“ nicht mehr lebbar ist? Kommen Geld und Erfolg vor der Erfüllung? Wird die Macht zur Gegnerin des Menschseins?

Wer meint, dies seien fromme Überlegungen, eher anzusiedeln im Bereich der Esoterik: Schauen Sie ruhig weg! Tatsache ist jedenfalls, dass 10.000 Suizide jährlich in Deutschland eine Aussage sind über die verheerenden Folgen der „Volkskrankheit Depression“. (Eine ebenso zutreffende wie politisch folgenlose Bezeichnung.) Aber auch unter volkswirtschaftlichen Aspekten müssen in unserem Land endlich die Alarmglocken läuten, und zwar richtig Laut: Ein gemeinsamer Report der Allianz mit dem Rheinisch Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) zur Depression errechnet jährliche Kosten von 22 (!!!) Milliarden Euro. Anders gesagt: In 15 Jahren 150.000 Tote (also praktisch ganz Darmstadt ausgerottet) und der gesamte Bundeshaushalt 2017 an Schadenssumme. – Das kann man sich schon nicht mehr auf der Zunge zergehen lassen, sondern man muss fragen, wie tief die Politik in unserem Lande eigentlich schläft. Oder wie wurscht 150.000 Leichen sind, nebst Kosten, selbstredend. Von den Millionen depressiver Lebender nebst indirekt betroffener Angehöriger und Arbeitskollegen mal ganz abgesehen. Rechnen wir nur drei indirekt Betroffene (Familie, Kollegen) pro depressiv Erkranktem/r, kommen wir auf eine Gesamtmenge von 24 Millionen Deutschen. Macht dreißig Prozent von uns. Frisst die Depression unser Land? Brauchen wir deshalb so viel Comedy und Gut-Drauf-Kultur?

Was wir also bräuchten, wäre eine Art psychologischer Kassensturz in diesem unserem Lande: Was ist los, dass die Leute bei uns reihenweise psychisch in die Knie gehen? Funktionieren die Zerstreuungskonzepte á la Sport-Event, Banal-TV, Fitness, Outfit und Titten nur noch oberflächlich? Gibt es darunter eine massenhafte unbewusste Psychodynamik, die das Ganze durchschaut und sich nicht mehr einfangen lässt? Sind Übersexualisierung (ein klassisches Merkmal von Geisteskrankheit) und Radikalisierung zwei Schwestern? Betrachtet man die Statistik, dann gibt es keine Ausreden mehr: Während die TV-Werbung von „Freiheit“, „Unabhängigkeit“, „Träume verwirklichen“ und „Nur du entscheidest selbst“ schwafelt, – und uns damit etwas vorgaukelt, was dem „verwalteten Individuum“ im Marcuse´schen Sinne längst abhandengekommen ist – erzählen mir Mittdreißiger reihenweise, in Deutschland habe es noch niemals eine so depressive Generation gegeben wie ihre. Kein Wunder bei dem umfassenden Konformitäts- und Anpassungsdruck, der das Leben eher aushöhlt anstatt es zu (er)füllen.

Wäre eine (selbst-)kritische Bestandsaufnahme in unserem Lande möglich anstatt sie in Sprechblasen untergehen zu lassen, dann würden die Konsequenzen sich von selbst aufdrängen: Wir brauchen in weiten gesellschaftlichen Bereichen, nicht zuletzt im Arbeitsbereich, eine Re-Humanisierung unseres Alltagslebens. Und wir brauchen schnelle und möglichst unkomplizierte Anlaufstellen: So wie wir Herzzentren haben und Lungenzentren, so brauchen wir bundesweit schnell erreichbare  Depressionszentren. – Das kostet was? Klare Ansage: Würde unsere Gesundheitspolitik ihren Namen verdienen und nicht nur Verteilungskämpfe bedienen, dann wäre längst allgemeine Erkenntnis, dass ich jemanden lieber für zwölf Wochen in eine psychosomatische Klinik schicke als zuzusehen wie er/sie erst psychisch in die Knie geht und dann via Somatisierung und Konversion in die körperliche Erkrankung abgleitet, mit allen ihren massiven Folgekosten. Aber davon sind wir weit entfernt. Denn „Psychodynamik“ ist in unserer Politik ein unbekannter Begriff. Es dominieren Juristen, Bürokraten, Pädagogen, und damit Vertreter des Zwangs statt der Einsicht.

Wenn ich in nunmehr fünfzehn Jahren Coachingpraxis eines gelernt habe, dann das: Zu Viele von uns sitzen im Schraubstock und verlieren den Atem. Wird Zeit, dass sich was ändert. Oder wir lassen sie einfach weiter sterben.

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