Über die Hilflosigkeit eines Coaches.

Die Dame hatte mich in einem Rundfunkinterview gehört, als sie mich anrief und um einen Gesprächstermin bat. Zum vereinbarten Zeitpunkt meldete sie sich dreimal aus der U-Bahn, sie sei unterwegs und in wenigen Minuten da, und schließlich erschien sie mit zwanzig Minuten Verspätung. Eine hübsche Frau Anfang der Vierzig, gepflegt, mit sympathischer Ausstrahlung. Beim Eintreten trug sie eine schwere blaue Stofftasche, die sie keinesfalls ablegen wollte und eng bei sich behielt. Schon an der Tür begann sie hektisch zu reden ohne Atem zu holen und behielt dies auch bei, nachdem sie Platz genommen hatte. Versuche, das Gespräch über Fragen zu ihrer Person zu strukturieren, gingen ins Leere: Sie antwortete ebenso ausweichend wie zerfahren und entgegnete stets „… und das müssen Sie auch noch wissen:…“, worauf sie ziemlich wirres Zeug redete.

Immer mehr verfestigte sich mein Eindruck eines inkohärenten Dauermonologs und damit der Verdacht einer Psychopathie. Wenige Minuten später war ich mir sicher, dass sie an einer schweren paranoiden Schizophrenie litt.

Ihre Nachbarn, so berichtete sie, wollten sie vergiften. Dazu würden sie täglich „Asche“ über den Zaun kippen, deren hochgiftige Bestandteile sie gesundheitlich zerstören sollten. Sie merke bereits, wie es ihr deutlich schlechter gehe. Allerdings seien diese Nachbarn „so unglaublich raffiniert“, dass es ihr niemals gelungen sei, sie bei ihren heimtückischen Angriffen zu erwischen. Dennoch habe sie die Täter bereits mehrmals zur Rede gestellt und sei von ihnen jedes Mal nur verlacht worden.
„Die haben mir gesagt, ich gehöre ins Irrenhaus!“ Was sie als Ungeheuerlichkeit empfand.
Mit Hilfe eines früheren Bekannten, der sie später jedoch ebenfalls „im Stich gelassen“ habe, habe sie Videokameras aufgestellt, um die Täter zu überführen.
„Aber die sind so gerissen, die spiegeln die, und dann ist da nichts drauf!“ Nachvollziehbar dürfte sein, dass mich ein sehr ungutes Gefühl beschlich.

Es gibt, grob gesagt, zwei Arten von Denkstörungen: formale und inhaltliche. Formale Denkstörungen sind Störungen des gesunden Denkablaufs. Bei ihnen handelt es sich um Veränderungen der Geschwindigkeit, der Kohärenz und der Stringenz des Gedankenablaufs. Das Gedankenjagen, die Inkohärenz und nicht zuletzt das Vorbeireden auf alle gestellten Fragen waren bei der weiterhin hektisch und zerfahren sprudelnden Besucherin unüberhörbar. Inhaltliche Denkstörungen hingegen zeigen, grob gesagt, nicht mehr nachvollziehbare Interpretationen realer Wahrnehmungen, die von der harmlosen Missinterpretation bis zum wahnhaften Denken reichen. Überflüssig zu erwähnen, dass die Darstellung der Besucherin nicht stimmen konnte und alle Anzeichen eines Verfolgungswahns aufwies.

Ihr Wunsch jedenfalls war, dass ich mit ihr zusammen zur Polizei gehen sollte, „damit wir die endlich einmal überführt kriegen!“ Alleine, so fürchtete sie, würde man sie nicht ernst nehmen.

Psychopathien, noch dazu so schwere, gehören überhaupt nicht in die Hände eines Coaches. – Nur schützt ihn das nicht davor, mit ihnen unerwartet konfrontiert zu werden. Man weiß vorher nicht, wer sich vorstellt, und was sein Anliegen ist, das am Telefon oft ganz anders dargestellt wird, als es sich nach einer Stunde des Gesprächs herausschält. Umso wichtiger, dass ein Coach über diagnostisches Vermögen verfügt, schon um selber in solchen Situationen seinen festen Stand zu behalten.

Es besteht ein verbreitetes Unbehagen gegen solche Erkrankten, die man bisweilen recht oberflächlich als „Irre“ oder „Verrückte“ tituliert, und deren Umgang man dann zu meiden sucht. Eine solche Einstellung ist schäbig: Es sind nämlich Menschen, die zutiefst und bitterlich leiden. Die pathologische Wahrnehmung ihrer Außenwelt, für die sie nichts können, setzt sie unter einen tatsächlich „irren“ inneren Druck, der sich in ihrer hektischen und zerfahrenen Sprechweise widerspiegelt. Für sie ist die wahnhafte Situation, die sie beschreiben, bitterste Realität, – die noch dazu dadurch verschärft wird, dass niemand sie verstehen will, obwohl die „Anzeichen“ ihrer Bedrohung nach ihrer Überzeugung doch eigentlich auf der Hand liegen. Dies führt sie in eine gehetzte Verzweiflungsspirale, die sie oft dazu verleitet, auch und gerade bei Fremden Hilfe zu suchen. Denn die – wenngleich nicht echte – Lebensbedrohung wird als tagtäglich und als echt empfunden. Das muss einer erst einmal aushalten ohne auszurasten.

Ich weiß von Fällen, in denen solche Menschen schnellstmöglich hinauskomplimentiert wurden, lehne dieses – im übrigen angstinduzierte – Verhalten jedoch entschieden ab: Wer mir gegenübersitzt, ist ein Mensch in Not.  Er/sie verdient meinen Respekt, meine Zuwendung, mein echtes Interesse und – wo irgend möglich – meine Hilfe. Das ist leichter gesagt als getan, denn solche Patienten gehören in die Obhut eines Facharztes oder einer Klinik.

Der Coach befindet sich nun auf einer Gratwanderung: Er darf die Hilfesuchende nicht im Stich lassen; genauso allerdings hat er darauf zu achten, dass er nicht selbst ins pathologische Geschehen integriert und unversehens zum Bestandteil des wahnhaften Prozesses wird. Damit – und nicht nur damit – verbietet sich jedes konfrontative Verhalten, das die Kranke nur zur Überzeugung führt, der Coach sei „auch einer von denen“. Nicht zuletzt ist unbedingt darauf zu achten, dass die Kranke jederzeit die Möglichkeit hat zu gehen, ohne daran gehindert zu werden. Sonst kann aus solch einer Situation blitzartig eine Gewalttätigkeit entstehen, weil die Besucherin das Gefühl bekommt, festgehalten und bedroht zu werden. Alles in allem keine vergnügliche Situation, doch hat man sich gefälligst als Mensch und als Coach zu bewähren.

„Sie müssen unbedingt zum Arzt!“, sage ich.
Der Redefluss stoppt, die Züge werden misstrauisch und verhärten sich. „Ach? Sind sie auch der Meinung, ich bin verrückt?“
Hier kann man einen schweren Fehler machen. Eine so verzweifelte Klientin muss sich gerade jetzt angenommen und verstanden fühlen.
„Nein“, sage ich, „aber wenn die schon Monate lang vergiftete Asche übern Zaun schütten, wer sagt Ihnen, dass Sie nicht schon gesundheitlich angeschlagen sind? Sie sagen ja selber, sie fühlen sich schlecht.“

Erstaunen. „Meinen Sie wirklich???“
„Erzählen Sie unbedingt einem Arzt von der Sache und lassen Sie sich komplett durchuntersuchen! Sie müssen auf jeden Fall ausschließen, dass die Sie schon krank gemacht haben, denn sonst gewinnen die am Ende noch! Vielleicht kann der Arzt Ihnen ja ein Gegengift geben.“
„Ehrlich gesagt, an sowas hab ich noch gar nie gedacht.“ – Der pathologische Redefluss versiegt für einige Sekunden und weicht echter Nachdenklichkeit. „Dann könnte ich dem mal meine ganzen Unterlagen zeigen.“ Sie weist auf die schwere blaue Segeltuchtasche. „Ich hab das ja alles hier dokumentiert.“

„Unbedingt.“, sage ich. „Sie müssen jetzt unbedingt auf Ihre Gesundheit achten.“ – Den Menschen in seiner Not annehmen ohne auf seinen Wahn einzusteigen, kein Honiglecken. Ich hatte diese Situation schon mehrmals und habe gerade dann eben das leidende Individuum gesehen und nicht den „Verrückten“.

Nach einer Stunde beende ich das Gespräch mit vollgetrommeltem Kopf. Ich nehme der Besucherin das Versprechen ab, gleich morgen einen Mediziner aufzusuchen. Mit ihrer Tasche, die sie das gesamte Gespräch über nicht losgelassen hat, geht sie unentwegt redend zur Tür. An der Tür redet sie weiter, und auch im Treppenhaus wendet sie sich zurück zu mir mit ungebremstem Redefluss. Man darf nicht vergessen: Nach unserer Rechtslage kann jemand nur bei Eigen- oder Fremdgefährdung eingewiesen werden. Ich hoffe auf den Arzt.

Eine Woche später ruft sie an.
„Und? Waren Sie beim Arzt?“
„Nein, aber bei der Polizei. Ich hab denen alles gezeigt, aber die haben mich nicht ernst genommen. – Mir wäre schon sehr recht, wenn Sie doch mitkommen würden!“
Stattdessen versuche ich nochmals sie zum Arzt zu bringen, vergeblich.

Nach dem Gespräch recherchiere ich das zuständige Gesundheitsamt und schicke – unter Wahrung der Anonymität der Besucherin – eine E-Mail, in der ich den Fall ohne Namensnennung schildere und um Hilfe bitte. Über zwei Wochen lang höre ich nichts, dann rufe ich den Medizinischen Leiter an, dem ich die Mail geschickt habe. „Hab ich nix gekriegt.“, sagt er und wirkt so lustlos, wie man als Bürokrat nur wirken kann. Ich lasse nicht nach und bestehe darauf, dass man sich um die Frau kümmert. Sie ist jung und hat noch viel Leben vor sich. Aber ich laufe gegen eine Wand: „Wir haben keine rechtliche Handhabe. Erst wenn sie versucht sich umzubringen oder Andere angreift, können wir was unternehmen.“

Ich sehe nochmals das hübsche Gesicht vor mir mit den gehetzten, angestrengten Zügen. Höre die hektisch sprudelnde Stimme, den zerfahrenen Wortschwall. Und weiß, dass in diesem Land wieder mal ein Leben den Bach runter gehen wird. So unnötig, wie man es sich nur vorstellen kann.

2 Idee über “Über die Hilflosigkeit eines Coaches.

  1. Elke Glatzer sagt:

    Ja, was fällt einem noch dazu ein? Ich kann mir Ihre Situation ein wenig vorstellen. Ich bin zwar kein Coach, gehe aber aufmerksam durch die Gegend und komme manchmal mit vorher unbekannten Leuten ins Gespräch. Mitunter dachte ich, wenn jemand echte Probleme hat, ist professionelle Hilfe angesagt. Den vorsichtigen Hinweis konnte ich geben, aber nicht nachforschen, ob dieser tatsächlich befolgt wurde.
    Ich kann nicht die ganze Welt retten. Ich helfe gern, wenn es meine physischen und psychischen Ressourcen nicht ausbeutet. Ich denke, in Ihrem beschriebenen Fall haben Sie alle Redekunst aufgewendet und versucht, weitere Hilfen zu erreichen. Sie müssen sich nichts vorwerfen. Manchmal erreicht man nicht, was man möchte – weil es Grenzen gibt oder andere Menschen nicht möchten. Das ist eben so, und das sich einzugestehen, ist keine Schwäche, sondern Realitätssinn.

  2. Heinrich Anonymus sagt:

    Ich habe Ihren Bericht mit großem Interesse gelesen. Leider ist meine Schwester in ähnlicher Verfassung wie Ihre „Patientin“. Nur würde sie sich noch nicht einmal einem Coach oder Arzt anvertrauen, zu groß ist Ihr Misstrauen. Inzwischen musste ich den Kontakt fast ganz abbrechen; sie denkt, dass wir sie überall schlecht machen würden, dabei sprechen wir seit langem nicht mehr über sie, aber sie behauptet, dass wir aktiv gegen sie kämpfen würden. Ich habe viel Fachliteratur und Fachbücher zum Thema gelesen. Es scheint aussichtslos, nochmals eine halbwegs auszuhaltende Beziehung herzustellen oder darauf zu hoffen, dass sich etwas für sie bessert. Es ist für mich sehr sehr traurig.

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