Republik und Verblendung.

Die Wenigsten werden es noch wissen: Diese Republik war einmal auf einem ganz anderen Weg. Nach den Restaurationsjahren der Adenauerschen Kanzlerschaft, in denen ein Politiker, der selbst von den Nazis gejagt worden war, ausgerechnet diese wieder zu Tausenden in staatliche Positionen gehievt hatte, waren immer mehr Fragen laut geworden: Ob dies der Staat sei, den wir damals Jungen wirklich wollten; ob die Republik der Verlogenheit tatsächlich weiter die Täter schützen und die Opfer verhöhnen wolle; ob Obrigkeit im schwarzen Anzug das Demokratieverständnis der jungen Nachkriegs-BRD verkörpere oder eine ganz neue, andere Staatsvision gelten solle. Eine, für die es noch keinen Entwurf gab, aber die irgendetwas mit Freiheit zu tun haben sollte, mit Wahrhaftigkeit und mit gegenseitiger Toleranz. Nur steckte das alles noch im Nebel, und die seltsam steifen politischen Honoratioren der Republik wirkten als Wegbereiter eines neuen Politikverständnisses unglaubhaft. – Man assoziierte sie mit exzessiver staatlicher Gewalt, in der Tausende Studenten höchst lustvoll zusammengedroschen wurden; mit der unverhohlen bejubelten Ermordung des vorgeblichen „Linksradikalen“ Benno Ohnesorg in Berlin, ausgerechnet durch einen später als Stasi-Mann entlarvten Täter; mit einem autoritär-muffigen Staatsverständnis, das eine Atmosphäre in diesem Land hatte entstehen lassen, in welcher der Mordanschlag auf Rudi Dutschke nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich geworden war. – Dreist gefeiert von einem Pöbel, der sich darüber in rauschhafte Begeisterung steigerte und am besten alles, was Langhaarig war „gleich ab nach Dachau!“ schicken wollte. Und das damals noch ganz ohne Facebook.

Adenauer wurde von der eigenen Partei zum Rückzug gezwungen, und nach den relativ glücklosen Ludwig Erhard und Kurt-Georg Kiesinger folgte jemand, der von Vielen gehasst wurde: Ein Emigrant namens Willy Brandt, der vor den Nazis ins Exil gegangen war (wo er, so die Meinung, gegen uns „gehetzt“ hatte); der eine Norwegerin geheiratet hatte (und damit, so Volkes Stimme, per se nicht „für Deutschland“ sein konnte); und dessen Verständnis eines demokratischen Miteinander geprägt war von der entspannten und offenen Art der Skandinavier statt des immer noch weit verbreiteten deutschen Kadavergehorsams: Man setzte sich formlos zusammen, beredete die Dinge und mühte sich um Konsens. Das Ganze ohne Hierarchie, leicht zugänglich und – anders als in Deutschland – ohne das Diktat der Mehrheit. Dazu begann er noch die Dogmen einer schon damals völlig verfehlten Ostpolitik einzureißen und bekannte sich auf dem SPD-Parteitag 1972 zum Begriff der „Compassion“ in der Politik: am besten zu übersetzen mit „Mitgefühl für die Betroffenen“. Seiner skandinavischen Prägung folgend, schwebte ihm ein Staat vor, der auf die Niedergefallenen einging und ihnen wieder aufhalf. – Starker Tobak für eine Generation, die noch eingesogen hatte, dass das „Schwache“ egal welcher Couleur „ausgemerzt“ werden musste.

Brandts großer gesellschaftspolitischer Ansatz, der leider völlig in Vergessenheit geriet, zeigte sich nicht zuletzt an den damals in Bonn überfällig gewordenen Bauvorhaben. Die zum Teil chaotisch über die Stadt verstreuten Ministerien und Behörden sollten im Sinne einer echten Regierungszentrale in einem Regierungsviertel konzentriert werden. Aber mehr noch: Regierung sollte für die Bürger erlebbar sein, sozusagen was zum Anfassen. Statt anonymer, gut gesicherter Komplexe wollte er Ministerien, die für die Bürger zugänglich waren. Der norwegische König Olav ging schließlich auch mit seinem Rucksack in Oslo spazieren und duzte Jede/n, der/die ihm begegnete. – Folglich wurden die neuen Bonner Ministerien auf Stelzen gestellt – so stehen sie noch heute -, so dass die Bürger darunter hindurchlaufen konnten, um sich „ihre“ Regierung mal näher anzusehen. – Wer in Reykjavik mal am Haus des isländischen Ministerpräsidenten vorbeigelaufen ist, wird verstehen, was mit dieser Art von Bürgernähe gemeint war.

Ich war damals Student und Anfang zwanzig, und ich lief richtig gerne dort herum. Viele von uns empfanden einen gewissen Stolz, dass nach der Phase „steifer Würde“ (so Brandt) wir Bürger plötzlich ernstgenommen wurden. Es wurde allseits gelobt und als Zeichen eines Neubeginns verstanden, der die Bundesrepublik aus der de facto postfaschistischen Nachkriegszeit in ihre echte Demokratiephase überführen sollte.

Es wäre so schön gewesen. Doch hatte eine recht kleine Absplitterung der über lange Zeit sehr starken „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO) sich gewalttätig radikalisiert. Erst brannten zwei Frankfurter Kaufhäuser, dann wurde Mittäter Andreas Baader mit Waffengewalt aus der Haft befreit. Dann ging die Rote Armee Fraktion (RAF), wie sie sich in ihrer Verblendung nannte, brutalstmöglich zur Sache. Vierunddreißig Menschen wurden ermordet, über zweihundert verletzt, vierundzwanzig RAF-Mitglieder verloren ebenso ihr Leben durch Fremdeinwirkung, Suizid oder Hungerstreik. Zusätzlich wurden vier völlig Unschuldige von Polizisten versehentlich erschossen.

Eines Morgens, als ich auf dem Weg zum Büro am Bundesjustizministerium vorbeifuhr, rollten dort gerade Bundesgrenzschutz-Polizisten eine Stacheldrahtrolle aus. Am nächsten Morgen war es eine Art Spanischer Reiter aus Stacheldraht, dahinter standen mehrere Uniformierte mit umgehängter Maschinenpistole. Irgendwann war es dann ein grün lackierter Stahlzaun, und dann gewöhnte man sich an diesen Anblick. – Schließlich war es ja Regierung, und die hatte sich halt wieder eingeigelt.

Parallel zu diesem eher unscheinbaren Vorgang änderte sich die Atmosphäre der Republik nahezu vollständig: Der Aufbruch in die Brandt´sche Gelassenheit war kollabiert. Stattdessen wurden Bürgerrechte und Strafverteidigerrechte bis heute eingeschränkt. Fuhr man abends aus dem Büro nach Hause, geriet man regelmäßig in schwer bewaffnete Polizeistreifen, die einen aussteigen ließen, während einer der Beamten einem seine Maschinenpistole auf die Brust richtete. Hanns-Martin Schleyer wurde entführt und ermordet, Kanzler Helmut Schmidt stand am Rande des Rücktritts, als die GSG 9 in Mogadischu sechsundachtzig entführte Geiseln befreite.

Die Vision einer offenen und freundlichen Demokratie, in der die Politik ihre Distanz zum Volk überwand und sich im besten Wortsinne mit ihr gemein machte, war da schon längst zertrampelt. Sie ist die übersehene Leiche dieser in jeder Weise unseligen Epoche. Der Rückzug des Staates in seinen Bunker und das ubiquitäre Misstrauen der Obrigkeit sind bis heute Realität. – Seltsamerweise wurde niemals thematisiert, was eine Hand voll Verblendeter über ihre schon breit diskutierten Verbrechen hinaus diesem Land angetan hat, und wo es sonst sein könnte. Bei Thomas von Aquin opponieren die ‚Stumpfheit des Sinnes‘ (hebetudo sensus) und die ‚Gabe der Einsicht‘ (donum intellectus) gegeneinander. In seiner Lehre von der ‚willentlichen Unwissenheit‘ (ignorantia voluntaria) spricht er der Geistesblindheit den Charakter der Sünde zu, sofern sie willentlich ist. Die Anzahl der Mitglieder aller drei Generationen der RAF betrug zwischen den 1970er und 1990er Jahren zwischen 60 und 80 Personen. Die Anzahl der Beraubten über 80 Millionen.

Eine Idee zu “Republik und Verblendung.

  1. gebhardm sagt:

    Jetzt ist die spannende Frage, was wir lernen (wollen)? Warum liess sich ein ganzes Volk derart in Geiselhaft nehmen? (diese Frage stellt sich auch heute wieder)
    Zumindest sehe ich ein positives Gegenbeispiel im aktuellen Vatikan: Dort brauchte es wieder einen Franziskus, der die Menschen durch Hingabe und – wie steht oben doch – Wahrhaftigkeit erobert und nicht durch Winken hinter Panzerglas. Ich bitte aber auch zu bedenken, dass „Toleranz“ hiermit nichts zu tun hat…

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