Und plötzlich sitzt man mitten drin. „Ich kann nicht mehr. Ich halt das alles nicht mehr aus.“ Und dann kommt der Satz, den man als Coach gar nicht gerne hört: „Wenn das jetzt auch noch kommt, mach ich Schluss.“
Nach verbreiteter Meinung redet man besser nicht über „sowas“, geschweige denn, dass man darüber schreibt. – Andererseits: Es ist Realität. Eine Realität, mit der ich schon mehrmals unerwartet konfrontiert worden bin. – Also doch darüber schreiben, auch wenn es schnell zur Stunde der Schlaumeier werden kann? Wir riskieren´s mal. Denn das Thema ist virulent; mir scheint sogar, in den letzten Jahren ist es noch virulenter geworden. Nicht nur der Druck im Arbeitsleben ist gestiegen; auch der (Selbst)-Optimierungsdruck, der einen Misserfolg nur allzu schnell zur umfassenden Entwertung werden lässt, trägt seinen Teil bei. „Ich bin gut, so wie ich bin.“, hat offenbar ausgedient. „Ich bin nichts ohne permanente umfassende Optimierung, die mir meine Akzeptanz sichert.“, das scheint das Credo bestimmter Jahrgänge geworden zu sein. – Nicht mehr die innere Ausstattung eines Menschen macht seinen Wert aus, sondern seine äußere Dekoration. Na, dann macht mal schön.
Ich entsinne mich meiner ersten derartigen Situation: ein Mann, der als Leiter einer Institution seinen Lebenssinn darin sah, dienstbar zu sein und gut zu funktionieren. Für ihn völlig unerwartet, geschah etwas, das ihm buchstäblich die Füße wegriss. Zusätzlich musste er die Erfahrung machen, dass seine Vorgesetzten abtauchten und ihn im Hagelsturm alleine stehen ließen. Nicht nur erlebte er jetzt üble Schwierigkeiten, sondern den Kollaps seines gesamten bisherigen Weltbilds. – – Falls jetzt einige kommen mit der berühmten Weisheit: „Aber das ist doch nichts für einen Coach!“ – Right you are. Aber mich hat noch keiner angerufen und gefragt: „Können Sie mal vorbeikommen? Ich will mich nämlich umbringen.“
Da bittet jemand um einen Termin, er „bräuchte nämlich mal ´ne externe Meinung.“ Und nach anderthalb-zwei Stunden intensiven Gesprächs, wenn der Klient Zutrauen gefasst hat und sich verstanden fühlt, macht er auf und zeigt seine tiefsitzende Verzweiflung und das Gefühl völliger Ausweglosigkeit, das ihn übermannt hat. – Hier greifen schwarze Fangarme nach einem Menschen, und sein Innerstes bricht auf. Nicht zuletzt, weil frühere Negativerfahrungen und Entwertungserlebnisse in solch einem Moment auf dramatische Weise kulminieren. Das Wichtigste überhaupt in einem solchen Moment ist, dass der Mensch sich gerade jetzt verstanden fühlt. Das Zweitwichtigste ist, dass man seine Ruhe bewahrt und nicht selbst in Kurzschluss verfällt. Mir persönlich half die Erinnerung daran, als ich einmal selbst in eine Mündung guckte und nicht wusste, was in der nächsten Sekunde mit meinem Kopf passieren würde. Es macht einen ruhiger, hinterher.
Jedenfalls glaube ich nicht, dass es für solche Momente Patentrezepte gibt. Auch in meinem zweiten Fall, nur wenige Wochen nach dem ersten, traf mich die Mitteilung unerwartet: Ein junger Mann hatte eine für ihn existentiell wichtige Prüfung in den Sand gesetzt. Er wollte eine Sitzung mit mir, „damit ich meine Orientierung wieder finde, wie es jetzt weitergeht.“ Erst als wir länger miteinander gesprochen hatten, zeigte er, wie kurz er „davor“ stand.
Es mag Leute geben, die dann gute Ratschläge haben für solch eine Situation: Ratschlag eins ist stets, dass man als Coach bei so etwas „seine Grenzen überschreitet“, – als würde man es sich vorher aussuchen. Ich kann aber schlecht aufstehen und sagen, ich sei für diesen Fall nicht zuständig. Ratschlag zwei lautet, dass man gefälligst etwas zu unternehmen habe. – So eine Empfehlung, soweit man sie überhaupt ernst nehmen kann, taugt bestenfalls zur Ableitung der eigenen Panik, und zwar der des Ratgebers.
Tatsache ist, dass man als Coach kaum mehr gefordert sein kann als in solch einer Situation. Und man sollte sich sehr genau überlegen, was man dann „unternimmt“. Der naheliegende Gedanke nämlich, mal kurz die 110 zu wählen und den Fall zu „melden“, kann für den ohnehin angeschlagenen Klienten fataler nicht sein: Blaulicht und Zwangseinweisung mögen aktuell Schlimmeres verhindern. Berücksichtigt man allerdings die Folgen für den Betroffenen, so können diese privat und beruflich so verheerend sein, dass sie genau die Spirale in Gang setzen, die man unbedingt verhindern wollte. Mein Klient wäre mit Sicherheit seine Leitungsposition losgewesen. Für einen schwer angeschlagenen Mittfünfziger hätte dies den programmierten Kurzschluss bedeutet. Für den zweiten Klienten nicht minder. Auch das hat man in Betracht zu ziehen, wenn man den eigenen Klienten nicht zerstören will. Obwohl es gewiss Fälle gibt, wo der Bruch der Vertraulichkeit als ultima ratio geboten sein wird.
Es ist wichtig, einem derart mitgenommenen Klienten fühlbar zu machen, dass man bei ihm ist und ihn nicht alleine lässt. Nicht weniger wichtig ist die Botschaft, dass die Situation zwar als aussichtslos erscheinen mag, dass es aber tatsächlich ernstzunehmende und erfolgversprechende Alternativen gibt, die der Klient in seiner Verfassung nicht mehr bedacht hat. Diese Aktionen sollten konkretisiert werden, damit sie als echt erlebt werden, und sie sollten unbedingt mit dem Angebot eines persönlichen Beitrags kombiniert werden: Beim ersten Klienten half mein Angebot, ein Mitglied der Politik einzuschalten, das über gewissen Einfluss verfügte. Beim zweiten war es der vielversprechende Kontakt zu einer Anwältin. – Erstaunlich war, wie positiv und erleichtert beide Klienten reagierten, nachdem sie die angebotenen Alternativen als realistischen Ausweg aus der Zwangssituation erkannt hatten. Der Gedanke an das eigene Ende nämlich ist vorrangig der Ausdruck des Wunsches, dass die als unerträglich empfundene Situation sich ändern möge. Diese Änderung muss als realistisch und machbar präsentiert werden, damit der vermeintliche „Ausweg“ seine Attraktivität verliert.
Eine detaillierte Diskussion darüber, wie nun in den nächsten Schritten zu verfahren sei, hob das Stimmungsbild der Klienten (und übrigens auch des Coaches). Erst wenn der Klient wieder als gefestigt erscheint, kann die Sitzung beendet werden, dies aber keinesfalls ohne die klare Vereinbarung eines umgehenden Arztbesuchs, um den Klienten in die eigentlich dafür vorgesehenen Hände zu überführen. Es sind Stunden höchster Verantwortung und höchster Konzentration. Wäre auch nur der geringste Punkt offen geblieben, hätte ich die 110 gewählt. Aber auch erst dann.
Beide Klienten suchten am nächsten Tag einen Arzt auf. Beide überwanden die Krise und leben wieder normalen Alltag.
Danke für diesen Beitrag Herr Späth. Ich sehe dem Thema als Coach und auch als Mensch in selber Weise entgegen und bin innerlich vorbereitet wie bereit, für diesen Gedanken offene Ohren und Zeit zu haben, also jemanden entgegenzunehmen, anstelle von mich abwenden.
Meine konkrete Erfahrung: von einem Klienten erhielt ich auf einmal Post von den Eltern, er hätte sich das Leben genommen. Er war 27, war beruflich alles und nichts (echt jetzt) und war mit seinem ADHS dabei, eine neue Ausbildung zu beginnen. Nix da von Anzeichen.
Beste Grüsse
Jona Jakob
Danke Herr Späth,
ich hab‘ das mit einem erst kurz vorher kennengelernten Bekannten erlebt, der mich intensiv in seine Situation involvierte, sich Rat holte, mir von seinen Stimmungslagen berichtete, mich an seiner, zunächst positiven, Entwicklung teilhaben ließ. Nach ein paar Wochen kam dann nachts der Anruf einer Freundin: er hatte sich erhängt. Frau und 6 Monate alte Tochter blieben zurück.
Und ich stellte mir lange Zeit die üblichen Fragen: Hatte ich alles getan, was in meiner Macht stand? Hätte ich massiver insistieren sollen, den abgebrochenen Klinikaufenthalt wieder aufzunehmen? Was hätte ich noch tun können? ecetera …
Selbstverständlich hat die Themarisierung von Suizid eine Kehrseite. Aber es gibt sicher nicht Wenige, die in den Suizid eines Menschen auf die eine oder andere Art involviert waren, und Austausch dazu gut brauchen könnten.
Darum danke für Ihren Beitrag.