Pia´s Panik.

 

 

„Wenn Holger nach Haus kommt, hat er es gern, wenn die Jungs schon bettfertig sind. Und ich schau immer, dass ich alles vorher geregelt hab, weil Holger sich sonst nicht erholen kann. Holger meint übrigens auch, dass ich zur Massage gehen soll, und er findet, ich sollte wieder Sport machen. Ich selber steh da ja nicht so drauf. Aber Holger sagt, es würd mir gut tun.“ – Sagt Pia, eine Freundin der Familie. Holger ist nämlich ihr ein und alles, und Holger entscheidet auch alles, und Pia würde auch niemals etwas ohne Holger tun, geschweige denn gegen Holger, denn Holger weiß es sowieso besser, und Pia ist auch ganz recht, wenn Holger das entscheidet. Hauptsache Holger eben, das muss Liebe sein, oder irgend sowas.

Nur hat Holger vor zwei Wochen in den Sack gehauen. Ohne es überhaupt zu merken, redet Pia von der Vergangenheit und tut, als wäre Holger noch da. Schon seit Holgers Abgang fällt auf, dass sie den Realitätsbezug zusehends verweigert und sich benimmt, als wäre alles noch „in Ordnung“, obwohl es das nie war. Holger jedenfalls hat sich das Gegenteil von Pia gesucht: Vertriebsmanagerin Tamara, energisch, willensstark, egozentrisch, – reines Alphatier. Er ist Knall auf Fall bei Pia und den Jungs aus- und bei Tamara eingezogen. Anfangsdreißigerin Pia ist innerlich zerstört. Sie kann nicht fassen, dass der einzige Mann in ihrem Leben, mit dem sie schon seit dem vierzehnten Lebensjahr zusammen war, sie plötzlich allein gelassen hat.

Die ohnehin recht schlanke Mutter zweier Söhne hat rapide abgenommen, schläft nicht mehr, berichtet von panischen Angstzuständen, vor allem nachts. „Ich fürcht mich so!“ ist zu einem ihrer häufigsten Sätze geworden. Dabei geht es ihr finanziell nicht schlecht: Holger macht gute 250.000 im Jahr, plus Dienstwagen. Er drückt gut ab, denn er will nicht, dass Pia und die Jungs unter seinem Ausstieg leiden: „Wir sind ja erwachsen.“ Tja.

In den Folgemonaten wirkt Pia buchstäblich immobilisiert: Sie ist unfähig, Alltagsdinge zu regeln („Holger hat das doch immer gemacht.“), und die beiden Jungs tanzen ihr auf der Nase herum, denn sie versorgt sie zwar, hat ansonsten aber ihre Erziehung eingestellt. („Seit Holger nicht mehr da ist… der hat da ja immer für Ordnung gesorgt.“) Holger überweist weiterhin großzügig. Dazu kommt Pias Mutter und bleibt für Wochen, um die Organisation des Haushalts zu übernehmen, weil Pia nichts entscheiden kann; den Anordnungen der Mutter folgt sie willenlos. („Was bin ich froh, dass mir jemand sagt, was ich zu tun hab.“) Reist Mama wieder ab, sitzt Pia jeden Nachmittag bei einer guten Freundin, um von der zu hören, wie sie welche Alltagsdinge erledigen soll. Regelmäßig weint sie dann, klammert sich an die Freundin und lässt sich trösten. Bis irgendwann deren genervter Gatte ein Machtwort spricht und Pia aufheult: „Wer kümmert sich denn jetzt um mich?“ – Pia ist erstarrt, handlungsunfähig, und – wie immer deutlicher wird – selber mehr Kind als Erwachsene: Sie hat als Holgers Anhängsel gelebt und nicht als seine Partnerin.

Aber: Sie will an sich arbeiten, und so fragt sie mich nach Fachliteratur, „damit ich mal versteh, wie Holger tickt.“ Ich gebe ihr Rainer Sachses „Persönlichkeitsstörungen“ mit, denn Holgers narzisstische Störung sticht ins Auge: Er ist stolz jetzt, dank seines bedingungslosen Erfolgszwangs hat er den Aufstieg in den Vorstand geschafft, und jetzt ist er „einer der Boys“. – Heißt: Macht, gute Kohle, Oberklasse-Dienstwagen und dazu hat Jeder schon seine Familie verlassen zugunsten neuer Freundin. Sowas schweißt zusammen in der deutschen Wirtschaft. Pia bringt mir das Buch zurück und meint, so ohne Kaisers Kleider hätte sie Holger noch nie gesehen. „Heute könnte ich gar nicht mehr mit ihm!“ Aber alleine kann sie auch nicht.

Menschen, die nichts für sich selbst entscheiden können; die stets den Ratschlag Anderer brauchen und ihm willenlos folgen; die keine eigene Meinung haben und sich nach den Ansichten der Anderen richten; die unbedingt umsorgt und versorgt werden wollen; und die buchstäblich zusammenbrechen, wenn man sie verlässt; die von nichts so sehr bestimmt werden wie von ihrer  Angst verlassen zu werden: Eigentlich sind sie Schimpansenjunge, – alleine nicht lebensfähig. Der Umgebung fällt es oft auf, und es wird oft verkannt: „Sie lebt nur für und durch ihn!“ Oder: „Der geht halt vorsichtshalber mit der Mehrheitsmeinung!“ – Die Kliniker bezeichnen es als „dependente Persönlichkeitsstörung“. Eine Feststellung mit Krankheitswert.

Sie definieren sich ausschließlich durch Andere. Sie sind die wärmsten und fürsorglichsten Partner überhaupt, denn sie setzen alles daran, eine bestehende Beziehung zu erhalten: damit sie bloß nicht verlassen werden. Denn dann versteinern sie, und ihre Reagibilität auf die Anforderungen des Lebens sinkt gegen Null.

Seltsamerweise gibt es noch keine klaren Theorien über die Entstehung einer solchen Persönlichkeitsdeformation. Während manche Experten als Ursache ein frühkindliches Trauma vermuten (eher unwahrscheinlich), geht die psychoanalytische Theorie davon aus, dass ein solches Defizit eher durch Erziehung und die frühkindliche Umgebung geformt worden ist: durch überfürsorgliche (und damit unbewusst entmündigende) Eltern, die dem Kind in scheinbar „bester Absicht“ die Entscheidungen abgenommen haben. In aller Regel hat solches Verhalten eine narzisstische Kehrseite: die Eltern projizieren ihre eigenen infantilen Wünsche nach einem unbeschwerten Rundum-Versorgtsein auf ihr Kind und wollen ihm eine Kindheit geben, in der es sich „um nichts sorgen“ muss. Tatsächlich aber entstehen damit lebensuntüchtige Individuen, die daraufhin geprägt sind, dass jemand anderer schon alles regelt. Da sie die eigenen Verhaltensdefizite unbewusst wahrnehmen, kann die Angst vor dem Verlust der, wenngleich autoritären, Versorgerperson sich bis zur Besinnungslosigkeit steigern. Sie zeigt sich allerdings nur indirekt: durch eine nachgerade kindliche Überhäufung des Partners mit Liebe, mittels derer garantiert werden soll, dass die eigene Infantilität ungestört gelebt werden kann. – Wehe, etwas geht schief: Entweder führt kopflose Panik zur vollkommenen Angststarre, oder es wird flugs eine Ersatzbeziehung gesucht (neuer Partner; Freundin; Mutterersatz), der ab jetzt alle Verantwortung zugeschustert wird.

Pia erlebt eine zweijährige Hölle. Materiell gut versorgt, schickt sie die Kinder täglich zu Freunden, während sie selbst die Wohnung kaum mehr verlässt. – Es sei denn, um bei der einzigen Freundin ihr Schicksal und ihre Verlassenheit zu beweinen. Sie hat drei Konfektionsgrößen verloren, Kinn und Wangenknochen ragen spitz aus der Gesichtshaut. – Da passiert das Unglaubliche: Holger kommt dahinter, dass Tamara ihn schon seit einem halben Jahr mit einem Vorstandskollegen betrügt. Er rauscht jäh nach unten, seine aus Selbstgefälligkeit und Egozentrik gezimmerte Scheinwelt kollabiert, – der klassische narzisstische Absturz. Wenige Tage danach steht er bei Pia auf der Matte. Als wäre nie etwas geschehen, schlingt Pia ihre Schenkel um ihn.

Ein paar Tage später zieht Holger wieder ein. Die Jungs, beide zu dreisten Rotznasen entgleist, sind wie verwandelt. Und Pia blüht auf, dass man nur noch staunt: sie nimmt zu, die welke Haut leuchtet wieder, die ganze Frau leuchtet wieder, und das innerhalb von zwei Wochen. „Durch so eine Zeit geh ich nie wieder! Den lass ich nie wieder weg!“ sagt sie, und es vibriert eine seltsam harte Entschlossenheit in ihrer Stimme.

Alles normalisiert sich, Alltag kehrt scheinbar ein. Doch, wenn man genau hinsieht:  Pia ist nicht mehr dieselbe. Sie wirkt oft abwesend, in sich versunken, grübelnd, furchtsam. Die Trennungsphase hat sie traumatisiert, doch spricht man sie darauf an, schüttelt sie unwillig den hübschen Kopf: „Das ist alles vorbei! Das kommt nie wieder!“ Und nach einer längeren Pause: „Nie wieder!“
Holger hat mit Tamara restlos gebrochen, er hat sie aus der Firma gemobbt. Zu seiner Ehrenrettung sei gesagt, dass er sich intensiv um Pia und die Jungs kümmert. Er ist da, wann immer sie ihn braucht, und sie braucht ihn eigentlich ständig, und sie braucht ihn immer mehr. Begegnet man den Beiden auf der Straße, hat Holger den Arm um sie gelegt, und sie schmiegt sich mit dem gesamten Oberkörper an ihn, als sei sie endgültig mit ihm verschmolzen. Selbst wenn sie gehen, schmiegt sie ihren Kopf an seine Brust, und manchmal blickt sie angstvoll prüfend zu ihm auf.

Holger, von Schuld- und Versagensgefühlen bestimmt, ist ab jetzt wie hingeschweißt an sie. Er erlaubt sich nicht den kleinsten Ausrutscher, und Pia überschüttet ihn mit Zärtlichkeit und Hingabe, dass es auf Außenstehende bisweilen eigenartig wirkt. Dann beginnt Pia auf der rechten Hüfte zu hinken. Holger ist jetzt noch mehr für sie da. Dann entwickelt sie ernsthafte Gehbeschwerden, aber sie schiebt es lächelnd beiseite: „So schlimm kann es nicht sein.“ In Gedanken ergänzt man: „Wie das, was ich erlebt habe.“ Obwohl Holger sie massiv zu einer ärztlichen Untersuchung drängt, zeigt sie erstmalig so etwas wie Autonomie und findet immer wieder Ausflüchte. Irgendwann ist es so schlimm, dass sie einwilligt. Die Untersuchung zeigt einen massiven Muskelabbau im Bauch- und Hüftbereich.

Ein Jahr später sitzt Pia im Rollstuhl, während die umfassende neuronale Erkrankung, die sie befallen hat, mitleidlos voranschreitet. Holger, vorzeitig ergraut und von Kummer zerfressen, verwendet jede freie Minute auf sie. Doch Pia, so viel ist klar, wird ihn bald verlassen.

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