Am Geheimnis fast erstickt.

Manchmal erwischt es einen kalt. Jedenfalls geht es mir so, als Roger an meiner Haustür steht, ein grundsympathischer Junge aus der Nachbarschaft, den ich seit Jahren kenne und schätze. Freundlich, hilfsbereit, kameradschaftlich, einer zum Gernhaben. Nur, diesmal sieht er verzweifelt aus. „Du bist doch Coach“, sagt er in der folgenden Minute, denn solange braucht er für den Satz. „Ich brauch Hilfe.“

Der Neunzehnjährige wirkt völlig mutlos, als er mir gegenüber sitzt, ich sehe, wie heftig es ihn ihm arbeitet.
„Das ist sowas von Scheiße.“, sagt er, und auch dafür braucht er eine volle Minute. Denn Roger ist ein schwerer Stotterer. Einer der schwersten Fälle, die mir je begegnet sind. Wenn er anfängt zu sprechen, ist es, als würde eine Hand nach seiner Kehle greifen und ihn würgen. Der ganze Oberkörper verkrampft, zieht sich zusammen und schnellt spasmisch hin und her, während er einzelne Wortfetzen hervorstößt. Der Junge arbeitet wie in einem Geschirr, hebt sieben-acht Mal an für jeden Satz. Es tut weh, ihm zuzusehen. Eine junge Seele im Schraubstock. Der breitschultrige Roger, robuster Mittelfeldspieler im örtlichen Fußballverein, wirkt dann so verletzbar wie eine Muschel, die man aus ihrem Gehäuse geholt hat.
„Ich mag nicht mehr.“, hackt er. „Ich mag einfach nicht mehr.“

Der Junge ist am Boden zerstört. Er würde so gerne Krankenpfleger werden, das hat er sich die ganze Schulzeit über erträumt. Nun aber hat er seine dritte Absage kassiert, unisono mit gleicher Begründung: „Wie stellen Sie sich das vor? Wenn ein Patient in eine kritische Situation gerät, sind Sie außerstande, das jemandem mitzuteilen.“
Das stimmt leider. Aber es ist auch dabei, den Traum eines jungen Menschen zu zerstören. Ich blicke in tieftraurige Augen. „Hilfst du mir?“ hackt er hervor. „Das Geld treib ich irgendwie auf.“

Über Jahre hinweg habe ich Rogers Entwicklung aus der Nachbarschaft verfolgt. Ein fürsorglicher, sehr warmherziger Junge, der oft bei uns im Garten war und liebevoll mit meinem kleinen Sohn spielte. Er hat vier Geschwister und lebt in „geordneten Verhältnissen“. Allerdings fällt mir auf, dass die Eltern ein sehr rigides Regiment führen und zur frommen Bigotterie neigen. Die Mutter höre ich oft lange mit sich überschlagender Stimme brüllen. – Sie ist überfordert, fünf Kinder sind für jede Frau ein Knochenjob, der Mann ist viel unterwegs. Bisweilen habe ich auch den Verdacht, dass Probleme einfach weggebetet werden. Hilft nicht immer. Rogers Problem jedenfalls ist mit den Jahren immer schlimmer geworden.

Völlig klar ist, dass ein Coach hier nichts zu suchen hat, denn es liegt ein Krankheitsbild vor. Und es bedarf keines besonders geschulten Blicks, um zu erkennen, dass Rogers Symptomatik nur die Spitze eines bisher unbekannten Eisberges sein kann.
„Oder nimmst du nur Manager?“ fragt Roger.

Ich nehme mir fast zwei Stunden Zeit, höre geduldig zu, wenn Roger Sätze hervorwürgt, ohne ihm Druck zu machen. Viel Leid kommt zum Vorschein, viel direkte und indirekte Diskriminierung, die sich schon viel zu tief in die junge Seele gegraben hat. Er hat viel loszuwerden. Sukzessive, mit viel Behutsamkeit, mache ich ihm klar, dass wir nicht ein technisches Problem beheben müssen, sondern ein psychisches. „Psychisch bin ich okay.“, sagt er. „Ich hab doch kein´ an der Waffel!“ – Freud hat mal geschrieben, dass die Neurose sich mit allen Mitteln verteidigt.

Am Ende kann ich ihn überzeugen, dass er in fachärztliche Behandlung gehört.
„Ich kenn da keinen.“, hebt er hilflos die Hände.
Aber ich. Eine mit mir eng befreundete Fachärztin für Psychiatrie ist eine hervorragende Psychoanalytikerin, mit der ich mich oft austausche. Ich rufe sie tags darauf an.

„Stottern“, sagt sie, „bedeutet: Es gibt ein Geheimnis, über das nicht gesprochen werden darf.“ Und sie sagt, Einzeltherapie sei zwecklos. Hier müsse die gesamte Familie therapiert werden, alle sieben. Regelmäßig einmal die Woche.
„Übernimmst du mir den Jungen?“, frage ich. „Mir liegt an dem.“
„Du, ich bin voll.“
„Einer, einer, einer geht noch rein!“, sage ich. Als Coach muss man auch mal den Widerstand einer Analytikerin bearbeiten. Eine Viertelstunde später habe ich es geschafft.
„Aber die müssen selber bei mir anrufen.“, insistiert sie. „Nicht du.“
„Eh klar“, antworte ich zufrieden. „I love you.“

Jetzt, so vermute ich, beginnt der härteste Teil der Aufgabe. Schon am Abend klingelt Roger wieder.
Ich erkläre ihm die Situation und sehe einen riesigen, leuchtenden Hoffnungsstrahl in seinen Augen.
„Kann ich mal telefonieren?“ fragt er. Der Satz schnellt flüssig heraus, ohne die kleinste Unterbrechung. Ein paar Minuten später sitzt seine Mom bei mir im Büro.

Das ist regelmäßig die heikelste Situation: Teilt der Coach mit, dass das Kind in fachärztliche Behandlung gehört, wird erst mal der Coach zu Kleinholz gemacht. Ursache ist, dass fast alle Eltern angesichts der Symptome ihres Kindes mit einem unterschwelligen Gefühl herumlaufen, etwas stimme nicht, und dieses Gefühl hartnäckig verdrängen. Wird die Situation von außen angesprochen, schießt ein heißer Strahl von Schuldgefühl und Versagensängsten nach oben, der nur abgewehrt werden kann, indem man ihn auf den Coach lenkt. – Ich bin auf alles vorbereitet, schließlich kenne ich Renate und ihren Flammenstrahl.

Sie hört lange und schweigend zu, ich warte auf den Ausbruch. Dann ergreift sie Rogers Hand und streichelt sie unentwegt. Der Junge sieht sie ungläubig an.
„Ich tu alles für den Jungen“, sagte sie leise, und ihre Augen füllen sich. „Alles, alles, alles. Hauptsache ihm wird geholfen. Und wenn ich dafür jede Woche mit dem Fahrrad nach Rom fahren muss.“
„Den Papst brauchen wir hier nicht. Wenigstens diesmal nicht, okay?“
„Wie weit ist das von hier zu dieser Frau?“
„Gut zwanzig Kilometer.“
„Egal. Ich weiß doch schon die ganze Zeit, dass irgendwas nicht stimmt.“
„Toll, Renate“, sage ich. „Alle Achtung.“
Sie streichelt das Gesicht ihres Sohns. „Ich red´ jetzt gleich mit Ernst und dann ruf ich die an. Das schaffen wir.“
Roger schnellt von seinem Sitz hoch. „Mama!“ schreit er gellend, dann fliegt er ihr um den Hals.

Ein paar Tage später sehe ich abends den vertrauten Kleinbus der Familie an unserm Haus vorbeifahren. Die Gesichter der Eltern sind ernst und gefasst, die Kinder albern untereinander. Nur Roger schickt mir einen so intensiven Blick, dass ich ihn lange mit mir nehme. Sie werden das anderthalb Jahre durchhalten, jeden Mittwochabend um die gleiche Zeit. Sie haben wirklich den Mut, die gesamte Familiendynamik zur Disposition zu stellen, um ihrem Roger zu helfen. Als ich kurz nach unserem Gespräch selber auf der Intensivstation liege, werde ich wach, weil Roger an meinem Bett steht und meine Hand hält. „Du schaffst das!“, flüstert er beschwörend.

Noch oft klingelt er abends bei uns und isst mit. Seine Störung ist vollständig behoben, er spricht frei, flüssig und zusammenhängend. Und er labert fast unentwegt, gerade so, als hätte er alles mitzuteilen, was er die ersten zwanzig Jahre nicht sagen konnte. Man kommt einfach nicht mehr zu Wort bei ihm. Manchmal wird es anstrengend, doch das nimmt man ja gerne hin. Die Familie insgesamt wirkt befreiter, ihre Art des Umgangs miteinander weniger ritualhaft.
In seinem Job als Krankenpfleger arbeitet er längst. Ich frage mich, innerlich grinsend, ob er sie auch dort alle gegen die Wand redet.

Es waren Alexander und Margarete Mitscherlich, die einmal schrieben, die Psychoanalyse sei das wertvollste Instrument zur Erforschung der menschlichen Seele, das uns je gegeben wurde.

 

 

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