Der Coach als Sexobjekt.

Hmmm, die junge Klientin reckt sich lasziv auf dem Stuhl nach hinten, die arme weit über den Kopf gestreckt. Ihre stramme Oberweite dehnt das dünne T-Shirt und hebt sich in natürlichster Formgebung himmelwärts. „Wollen wir anfangen?“, zwitschert sie. Wie zufällig fliegt das kurze Röckchen der Siebzehnjährigen nach oben, bis eine Art von Restslip sich ins Bild schiebt, bevor es mit einer beiläufigen Handbewegung glattgestrichen wird. Der Coach sitzt und zeigt sich unbeeindruckt vom inzwischen vertrauten Begrüßungsritual. Auch Sexualisierung ist eine Aussage, eine relativ klare sogar. Sie heißt: Ich will dich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln neutralisieren. Ich werde alles daran setzen, damit wir nicht auf das zu sprechen kommen, was wirklich in mir vorgeht. Erst wenn ich dich in mir habe, kann ich sicher sein, dass du nicht in mich gelangst. – Da wird nur nichts draus.

Seltsamerweise haben die Eltern, ein schwäbisches Unternehmerehepaar, sich an mich gewandt wegen der abstürzenden Schulnoten ihrer Tochter. Nicht wegen der regelmäßigen, organisch nicht erklärbaren Synkopen, die sie irgendwo unterwegs bewusstlos kollabieren lassen und mehrere Notarzteinsätze veranlasst haben, und die man als „Ja moi, isch halt mitte´ en d´r Puberdäd!“ verharmlost. Nicht wegen der auffallend zerritzten Unterarme. („En dem Alt´r, jaja, da machet se ja n jäd´n Blödsinn mit, de Mädla!“) Und schon gar nicht wegen der unübersehbaren Hypersexualisierung ihrer Tochter, die schlicht verdrängt wird. Erst als sie als Folge ihrer wahllosen und völlig impulshaften Sexualpartnerschaften mit zugeschwollenem Gesicht nach Hause kommt, lässt es sich nicht mehr ignorieren. Wird aber selbstverständlich als „leichtsinniger“ Einzelfall behandelt, der mit einer ebenso lautstarken wie sinnlosen Gardinenpredigt zur Abwehr elterlicher Versagensängste umfunktioniert wird. Denn Versagen ist unzulässig, man fordert in allen Lebenslagen „Leischtung“! Damit die wieder stimmt, holt man einen Coach: „Geld isch da!“

Für einen Coach ist das eine höllisch gefährliche Situation, denn er kommt unter Druck aus allen Richtungen. Die sexuelle Aggression der Tochter macht ihn zum Ersatzobjekt für deren Aggression gegen die Eltern, deren Bemühungen sie in unausgesprochenem Hass torpediert; die Eltern wiederum verlangen „Erfolge“, wobei als einzig zulässiger Erfolg die Stabilisierung der elterlichen Position definiert wird, – und selbschtverständlich bessere Schulnoten, „Geld isch da.“. Der Coach hingegen fühlt sich wie jemand, dem aus allen Richtungen – im wahrsten Wortsinne – am Gewand gezupft wird. Gibt ein Coach den sexuellen Avancen einer Klientin nach, verrät er, dass er ein Problem mit sich selber hat, das sich vor seine Verantwortung geschoben hat. Außerdem gehört er in Therapie und hinter Gitter. Gibt er dem Druck der Eltern nach, soll er am besten seinen Job aufgeben. Ob er es will oder nicht, gerade in seiner Eigenschaft als Coach wird er hier zur Säule gemacht, die das kollabierende Familienkonstrukt stabilisiert: Man leitet den Druck auf den Coach und verweigert sich weiterhin jeder Konfrontation mit den Tatsachen.

Der Coach als Funktionsträger gemeinsamer Realitätsabwehr. Die vom Coach als kausal vermutete Missbrauchsproblematik lässt sich weder verifizieren noch falsifizieren. Aber alle drei Familienmitglieder versuchen ihn zu ihrem Verbündeten zu machen.
Die wichtigste Einsicht ist: Hier gibt es nichts zu coachen.

Doch was tun? Der Coach ringt mit seiner Verantwortung und seiner Frustration im Angesicht einer hochkomplexen Familienpathologie. Coachingziel können also nicht bessere Schulnoten sein, sondern ein stationärer Aufenthalt der Klientin in einer jugendpsychiatrischen Klinik. („Was? Klinik? Mir fehlt doch nix!“) Kausale fachärztliche Therapie ist angesagt. Und noch ein Konflikt stellt sich: Mit wem reden? Die junge Klientin hat Anspruch auf Vertraulichkeit, nicht nur des vertraulich Gesprochenen, sondern auch des analytisch Erkannten. Die Eltern aber sind erziehungsberechtigt und stehen in der Verantwortung für die Gesundheitssorge ihrer Tochter. – Es gibt Situationen, da denkt man, man hat einen Scheißjob. Der Coach beschränkt sich auf die Mitteilung des Nötigsten, wobei ihm dies durch die Einsicht erleichtert wird, dass auch die Nennung umfangreicher Details chancenlos bliebe gegen den unverzüglich einsetzenden Wasserfall kleinbürgerlichen Geschwurbels, das sich auf den Satz reduzieren lässt: UNSERE Tochter nicht! Punkt.
Oh doch, denn zwei Tage drauf landet sie in der geschlossenen Jugendpsychiatrie. Es ist etwas vorgefallen. Was genau, will man nicht sagen und umschreibt es ebenso blumig wie nichtssagend. Die Eltern sind entsetzt, verstört, verunsichert auch vom nachhaltigen Schwanken des ebenso pathologisch wie pathogen unterfütterten Familienbildes. Mit zitternden Fingern zeigen sie dem Coach eine Kopie des Klinikberichts an die Hausärztin. Von „kombinierter Persönlichkeitsstörung“ ist darin die Rede, und davon, dass „angesichts der umfangreichen Symptomatik ein länger dauernder stationärer Aufenthalt dringendst erforderlich“ sei. Auch Selbstschädigung ist ein Thema. Eine junge Seele voller Hass, der nicht nach draußen findet und sich gegen den eigenen Körper richtet.

„Die hent se doch nimmer alle!“, sagt der Vater.
„Ja!“, pflichtet die Mutter bei. „En dem Briefle, da erkenn i ja moi oig´nes Töchterle nimmer! M´r möcht´ ja grad moine…“ Der Satz bleibt unvollendet. Man ist erzürnt und ratlos, weil die Klinik sich weigert, „ons´r Mädla“ herauszugeben. „Ja freili“, sagt der Vater, „mit sowas verdienet die ja ihr Geld!“
Fünf Tage drauf ist die Tochter wieder da, und der Coach wird sofort informiert. Es hat etwas von Triumph über die Obrigkeit an sich.

Die Kleine ist in einem unbewachten Moment abgehauen. Die Klinik hat umgehend die Polizei verständigt, und diese hat ebenso umgehend die Fahndung nach der Entsprungenen eingeleitet. Natürlich schaut man dann zuerst einmal bei den Eltern nach, und siehe da, da sitzt die Zielperson und trinkt Kakao. Festnahme und Rückverbringung in die Klinik scheitern am chormäßigen Protest des kurzfristig geeinten Familienverbandes. „Des Mädla g´hört nach Haus!“ Die Klinik gilt mit sofortiger Wirkung als medizinisch und ethisch disqualifiziert. Das hermetische Familiensystem schließt sich riesenmuschelartig um das eigene Kind, das sich zufrieden in die Gefangenschaft schmiegt, diese fälschlich als rückgewonnene Freiheit umdeutend. Der einzig sinnvolle Therapieansatz wird gemeinsam zertrampelt. Aussagen des Coaches, die dringend zur Rückkehr in die Klinik raten, bleiben ungehört. Man entschließt sich, die Familienneurose ab sofort noch härter gegen die Außenwelt zu verteidigen.

Doch auf jeden Fall die Schulnoten müssen gehoben werden, die sind das eigentliche Problem, sagt der Vater. „Wenn die Noten stimmet, dann rägelt sich des and´re fascht von selbst.“
Der Coach soll wieder regelmäßig coachen, sagt er. „Geld isch da!“
Der Coach verweigert sich.

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