Um Himmels Willen, bloß kein Coaching! (2016)

„Ich bin´s gewohnt, meine Angelegenheiten selbst zu regeln!“ ist der beliebteste Ausspruch vor dem Zusammenbruch. Und außerdem ist er albern. Denn er formuliert einen Omnipotenzanspruch, dem kein Mensch gewachsen ist: Wenn mein Pankreas entzündet ist, geh ich zum Internisten. Wenn mein Haus brennt, ruf ich die Feuerwehr. Wenn meine Karriere brennt, versteige ich mich lieber in Kontemplationen oder hole mir Rat von Leuten, die ähnlich tief in der Tinte sitzen wie ich. Damit es auch ganz bestimmt funktioniert.

Irgendwann brennt die ganze Seele lichterloh, und da man bekanntlich fehlerfrei zu funktionieren hat, legt man eine Decke drüber, damit niemand den Feuerschein sieht. Man hat ja ein Image zu verlieren. Seltsamerweise brennt es unter der Decke weiter: Schlafstörungen. Überdrehtheit. Gefühle von Resignation. Körperliche Erschöpfung. Gefühl nur noch zu funktionieren. Angsthaftes Reflexverhalten. Beziehungsstress. Erkrankungen. Gefühl von „Ich-weiß-einfach-nicht mehr-weiter!“. Und nicht selten: Spontaner Weinkrampf, überfallartig. Ob man sowas dann als Burn-Out bezeichnet oder Psychodynamik mit Krankheitswert, ist belanglos. So jemand braucht Hilfe. Dringend. Und bisweilen braucht er jemanden, der ihm einen liebevollen Schubs gibt: Nun wird´s aber Zeit, dass du was unternimmst!

Wenn solche Menschen (um die handelt es sich nämlich!) dann bei mir sitzen, haben sie die klassische Tournee hinter sich: Guter Freund/gute Freundin, weil sonst nirgendwo offenes Gespräch möglich. Daraus resultierend die Empfehlung: Atemtherapie/Autogenes Training/Marathonlaufen/Yoga/Pilates/Klangschalen oder Ähnliches, aber leider, leider, es ist trotzdem noch schlechter geworden. Na sowas. Jemand empfiehlt Coaching. – Nee, echt nicht, wieso denn? Ich hab doch nix! Zugeben, dass man Hilfe braucht? Kommt fürs Selbstbild des/der Erfolgreichen gleich nach dem Insolvenzantrag.

Da sitzen dann oft genug Seelen vor mir, die vor Schmerz schreien und dennoch froh sind, dass sie zum ersten Mal gehört werden. Je nach Typus dauert es unterschiedlich lange, bis das verkrampft aufrecht erhaltene Selbstbild hinterfragt werden darf. Meist ist es ein ziemlich herzloses: Klappe halten, funktionieren, einstecken, Leistung bringen, und bitte keine Schwachheiten! Das klassische Erfolgsrezept. Nicht selten, dass Männer plötzlich zu weinen beginnen und völlig verwirrt sind, dass ein Mann ihnen liebevoll zuhört und sie versteht. Frauen tun sich da etwas leichter, sind aber genauso dankbar. – Wo sind wir hingekommen in dieser Gesellschaft, dass Verstanden-Werden zum Luxusartikel geworden ist?

Und dann, irgendwann, setzt Zutrauen ein: Während man ein paar Sitzungen lang beobachtet hat, dass das hilfesuchende Gegenüber (den Ausdruck „Coachee“ finde ich ekelerregend) permanent einen Schlag oder einen Vorwurf oder eine Zurechtweisung erwartet, beginnt es zu begreifen, dass Schwäche kein Versagen ist, sondern Teil eines geordneten Menschseins. Und dass man über Schwächen und Ängste reden kann, denn sie sind wertvolle Informationen, über die ein Coach sich freut: Sie verraten nämlich, was unter der Decke geschieht, im sogenannten Unbewussten. Das allerdings ist hundert Mal stärker als der bewusste Mensch und steuert diesen kompromisslos: je nach dem, zum Erfolg oder gegen die Wand. Aber es steuert.

Dies sind die Gespräche, in denen der Mensch gegenüber immer wieder stutzt und schweigt: So habe ich das noch nie gesehen. So habe ich mich selbst noch nie gesehen. Aber irgendwie… hmmm… doch doch, da ist was dran. In der Folge setzen erste, vermeintlich unbedeutende, Veränderungen ein: Das hab ich vorher noch nie so gemacht. Das hab ich vorher noch nie so gekonnt. Auf einmal  funktioniert´s, als wär´s nie anders gewesen. Schon komisch, irgendwie. Merke: wenn Psyche sich verändert, kommt sie nicht mit Blasmusik, sondern auf Taubenfüßen.

Und dann, oftmals out of the blue, rumpelt´s im Karton: Der ehedem so friedliche Mensch gegenüber kommt geladen an und staucht seinen Coach nach allen Regeln der Kunst zusammen: Du mieser Typ, ich hab dich durchschaut, du willst mich ja nur klein machen. Du willst mich genauso klein machen wie mein Chef, mein Ehepartner, mein Dings, mein undankbarer Sohn, mein Vater, meine Mutter! Und der Coach sitzt da und freut sich: Der Durchbruch ist da! Nach diesem reinigenden Gewitter ist der Mensch gegenüber verändert. Irgendwie druckfreier. Gelassener. Mit viel mehr Durchblick, denn die eigenen, selbstschädigenden Projektionen sind bewusst geworden und gerade dabei, dauerhaft ihre Macht zu verlieren. Der Mensch gegenüber wirkt auf einmal viel unerschütterlicher. Man könnte auch sagen: erwachsener. Denn das geschundene und unglückliche Kind, das er viel zu lange in sich verdrängt (und damit wieder geschunden) hat, hat sich seinen Freiraum erarbeitet und steht jetzt zufrieden und vergnügt neben dem Erwachsenen. Der eine kann nicht ohne den anderen. Gemeinsam allerdings sind sie kaum zu schlagen.

Ich bin immer wieder erstaunt und glücklich zugleich, zu sehen, wie solche Menschen dann auf einmal durchstarten. Die Veränderungen enden nämlich nicht an der Bürotür, meist wird umfassend aufgeräumt: Beziehungen zu Eltern, zum Partner, zu den eigenen Kindern. Auch mal ein Jobwechsel, oder auch mal ein klärender Konflikt mit Kollegen. – Das Resultat entscheidet: Der Mensch gegenüber sitzt mir nun gar nicht mehr gegenüber, sondern ist zurück im plötzlich positiven Alltag. Und hat dort einen richtigen Lauf. Ohne mich, so wie sich´s gehört.

Interessantester und zugleich schönster Fall: Ein Klient, der mich wegen Erschöpfung im Job aufsucht, trennt sich nach der dritten Sitzung von seiner langjährigen Partnerin und nutzt die Gelegenheit, der endlich einmal zu sagen, was ihm alles gefehlt hat. Erst mauert sie, drei Monate später wird sie nachdenklich, dann reden sie erstmalig miteinander und nicht mehr gegeneinander. Anderthalb Jahre später heiraten sie. – Kein Schmäh, das Hochzeitsfoto habe ich immer noch auf der Festplatte.
Um Himmels Willen, bloß kein Coaching!

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