Die Welle unserer Blindheit (Jan. 2004)

Schon als ich an Weihnachten 1988 meinen Urlaub in Neuseeland verbrachte, fiel mir auf: Die Rückseite der dortigen Telefonbücher trug den Titel „What to do when disaster strikes?“. An oberster Stelle standen Verhaltensempfehlungen für den Fall eines Tsunami. – Ich gebe zu, dass so etwas recht exotisch auf mich wirkte. Mit der Vorstellung, eine bis zu 30 Meter hohe Flutwelle könne von See her über die Küste hereinbrechen, konnte ich nicht allzuviel anfangen.Und außerdem hatte ich ja einen PS-starken Mietwagen.

Jetzt wissen wir, dass Wasser die Vernichtungskraft einer Hiroshima-Bombe erbleichen lassen kann. Das näher auszuführen ist nach den Bildern der letzten Tage nicht erforderlich. Doch dürfen wir angesichts der Unübersichtlichkeit der Region getrost davon ausgehen, dass auch die derzeitige Zahl von 160.000 Opfern knapp gerechnet ist. Mein gesamter Heimatlandkreis – Kreisstadt, Dörfer, Einödhöfe – ausgelöscht von einem einzigen Wasserguß. – Aus dem Internet lade ich mir die Bilder einer vierköpfigen Familie und die Porträts zweier Paare aus Dörfern meiner näheren Umgebung. Verschwunden.

Bei Tragödien dieser Art verbietet sich endlich einmal die neurotische Binsenweisheit, daß jedes Unglück „auch eine gute Seite“ habe: hier regiert nur noch blanke Schwärze. Und dennoch könnte eine Katastrophe dieses Ausmaßes Veränderungen im menschlichen Denken bewirken. – Einfach weil ihr eigenes Ausmaß bisherige Denkgrenzen sprengt. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben wir die Möglichkeit des erneuten Abwurfs einer Atombombe und die damit verbundene Opferzahl für letztlich unrealistisch gehalten und uns in der seltsamen Sicherheit gewogen, daß uns – lokale Konflikte mal ausgenommen – nichts Ernsthaftes passieren könne. Nun hat lauwarmes Wasser uns den Tunnelblick unseres eigenen Denkens vorgeführt. Gerade wir Westler, die wir über unserer Hochtechnologie recht narzißtisch geworden sind, werden uns unsere Irrtümer eingestehen müssen.

Ich denke, wir werden den Begriff Natur für uns neu definieren müssen. Sie hat uns unsere völlige Belanglosigkeit vorgeführt. Unsere Illusion der intellektuellen Steuerbarkeit von Lebensvorgängen demontiert. Unsere Vorstellung, „mit Natur leben“ zu können, als Anmaßung demaskiert: Wir hängen auf grausame Weise von ihren Funktionsprinzipien ab. Wir haben nicht die Spur einer Chance gegen sie. Wir sollten, in Erkenntnis dieser Tatsache, den Gedanken eines wie auch immer gearteten „Naturschutz“ ad acta legen: Die Großmacht Natur braucht keinen generösen Schutz durch Gartenzwerge. Werden sie ihr lästig – oder nicht einmal das – , dann zerhaut sie sie. Es regiert die reine Willkür. Die Vorstellung, daß wir „Natur zerstören“ könnten, ist schlicht albern. Wir können Sie krassestenfalls stören. Sowas erledigt sie mit links. Und, auch wenn wir es nicht sehr gerne hören: Wir sind hier nicht einmal Gesprächspartner. Die Machtverhältnisse sind absolut. Und wir sind absolut verblendet.

Darum sollten wir uns – angesichts der soeben erfolgten Machtdemonstration – panisch darum Gedanken machen, wie wir unsere störende Einwirkung auf das Machtsystem Natur schnellstens minimieren können. Aus schierer Angst ums Überleben. Denn was wir in unserer Hybris eingeleitet haben – als „Klimawechsel“ dramatisiert, im Gesamtrahmen jedoch weniger als ein Flohbiß – wird auf uns in unberechenbarer Weise zurückfallen. Ohne daß das Gesamtsystem Natur auch nur den Hauch eines Schadens nehmen würde. Es stellt sich bloß um.

Ich halte nichts von Kassandrarufen und hysterischen Beschwörungen. Aber es sollte uns zu denken geben, dass ausgerechnet ein paar „primitive“ Naturvölker sich in Sicherheit bringen konnten, weil sie die Zeichen der Natur – ungewöhnliches Verhalten verschiedener Tierarten – sofort erkannten und danach handelten. Wer hat denn da bitteschön die alten Managertugenden Kompetenz und Flexibilität bewiesen, und wer hat seine Unfähigkeit unter Beweis gestellt? Das Zeugnis, das wir uns selber ausgestellt haben, ist dürftig. – Wie hieß es einst in den ganzseitigen Anzeigen eines bekannten Management-Instituts: „Ihre Strategie ist falsch!“ Oh yeah, brother.

Die Umorientierung, die wir bräuchten – ohne dass ich allzuviel Hoffnung darauf hegen würde – hat nichts mit Getröte und Herumgehüpfe in Stonehenge zu tun. Auch nichts mit Sinnsuche für triebdefizitäre Hausfrauen und mental marode Akademiker. Was ich mir wünschen würde, wäre blanker Pragmatismus: Eine Rückkehr zur Einsicht, daß es tatsächlich ein Machtsystem gibt, das um ein Vielfaches höher steht als wir. Es anzubeten und zu lobpreisen wäre der falsche Weg. Auch wenn uns angesichts solcher Katastrophen nachfühlbar wird, in welchem Ausmaß frühere Kulturen sich ihm ausgeliefert fühlten. So daß der Ursprung religiöser Huldigungsrituale – bis hin zu Menschenopfern – uns aktuell verständlich wird. Nur, diesen Weg brauchen wir nicht mehr zu gehen. Hier endlich könnten wir unser gesamtes naturwissenschaftliches Potential einsetzen: Wie verhalten wir uns konzeptionell so, daß unsere Überlebenschancen gegenüber dem um den Faktor „Unendlich“ stärkeren Gegner Natur optimiert werden?

Nichts ist stärker als eine Idee, deren Zeit gekommen ist, – mit Ausnahme des brutalsten und absolutesten Machtsystems, das wir kennen: „Mutter“ Natur. Bisweilen kann eine Idee auch darin bestehen, daß Proportionen neu zurecht gerückt werden müssen. Sollten wir uns die Mühe sparen wollen, auch kein Problem für sie. Wir ziehen so und so den Kürzeren.

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