Der Schlammerl Karl war schon ein seltener Depp. Alles
andere als hell im Kopf, bildungslos und -feindlich, das graue Gesicht unter
den grauen Haaren verschlagen zusammengekniffen, die Freundlichkeit aufgesetzt
und lauernd. Auf der einen Seite biederte er sich an, wenn man zu nahe bei ihm
saß, auf der anderen Seite blickte man ihm nur schwer hinter die Fassade. Dort allerdings
schien beträchtliche Brutalität zu stecken. Trotz seiner ruhigen, bedenkenden Art
wirkte der ganze Mann auf eine unerklärliche Weise, als sei Brutalität seine
Bestimmung. – Wie gesagt, ein eher leiser Charakter. Unentwegt peilend.
Wenn er mit seinen Kumpanen am Stammtisch saß, dann lauschte er schmallippig
der Unterhaltung, und nur selten gab er kurze Kommentare von sich. Meist
besagten diese, dass irgendjemand „weg“ gehöre. Es wussten ja eh alle am Tisch,
was damit gemeint war. Und manchmal, wenn er die vierte Weißweinschorle intus
hatte, entfuhr es ihm: „Früher, da hätten mir schon aufg´räumt!“
Wie´s halt so ist: Einmal SS, immer SS. In Polen, in der Tschechei, in der
Ukraine und „bei die Russen halt“, da hatte er mit deutscher Gründlichkeit
„aufg´räumt“. Vermutlich wusste er selbst nicht mehr, wie hoch der Leichenberg
war, den er und seine Mitschlächter hinterlassen hatten. – Die Opfer kamen in
seiner Weltsicht nicht vor, wohl aber die Überzeugung, „dass heutzutag´ unsere
Oberen sich ja nix mehr trauen!“ Der Staat war kein Staat mehr für ihn, weil er
nicht mehr für „Ordnung“ sorgte. Es liefen ihm viel zu Viele herum, die sich
seinem an Zwang und Vernichtung geketteten Weltbild nicht fügen wollten. „Und
heut täten SIE sagen, mir wären Verbrecher! Und selber noch nix geleistet!“
Viel hatte auch er nach dem Krieg nicht mehr zustande gebracht, ein paar Jahre
als Ausfahrer für Heizöl, ein paar Jahre als Flaschenwäscher bei einem
örtlichen Limonadenhersteller, dann Wiegemeister im örtlichen Kieswerk und zuletzt
bis zur Rente Hausmeister im Altenheim. So lebte er mit seiner drachenhaften
Gattin („Ja mei, Schönheit bin i keine, da muss i halt auch den nehmen, wo i
krieg!“) von seiner schmalen Rente, die er quer durch die Stadt zu einer Weinstube
trug, weil er die Demütigungen durch „die Hilda“ längst nicht mehr ertrug. –
Eines Tages aber kam er freudestrahlend an seinen Stammtisch, in der Hand ein verschlissenes
altes „SS-Liederbuch, herausgegeben von der Reichsführung SS“, das so
wundervoll poetische Titel enthielt wie zum Beispiel „Wir sind die
Sturmkolonnen!“, oder „Die Fahne hoch!“, oder „Heraus, heraus die Klingen!“,
oder auch „Das Lieben bringt groß´ Freud´!“, wobei Letzteres in diesem literarischen
Umfeld etwas erstaunlich wirkte. Während seine Kumpane sich noch ratlos die
Köpfe kratzten, blätterte der Karl mit zitternden Fingern über die zerfaserten Seiten,
bis er mit einem hektischen „Da hamma´s!“ auf einen Liedertitel wies: „Auf
jeden Jud´ ein Bajonett!“ Am unteren Rand des Notenblattes lasen sie: „Worte:
Karl Schlammerl, Weise: Karl Schlammerl“.
„Für Adolf Hitler kämpfen wir/ den größten aller Kämpfe!/ Schon wanket Juda´s
falscher Thron/ in uns´rem Pulverdämpfe…“
„Ja Sakra!“ kam es anerkennend. „Des haben mir ja gar nicht g´wusst!“ Und der Karl
platzte förmlich vor Stolz.
„Ja, warum hast uns des denn nie g´sagt?“
„Hättet ihr mir´s ´glaubt, ohne einen schriftlichen Beweis?“
Ergebenes Schulterzucken. Recht hatte er.
Jedenfalls, ab da war der Schlammerl nicht mehr wieder zu erkennen, denn er lief
auf einmal so stahlgerade, als hätte er die Uniform wieder an, und auch sein
Schritt war stechender geworden. Ein paar Wochen später verteilte er
druckfrische Visitenkarten am Tisch, und die Kumpane lasen erstaunt:
„Karl Herbert Schlammerl
Dichter und Komponist“
Erst schwieg man verunsichert, doch als der erste von ihnen ehrfürchtige
Bewunderung zu erkennen gab, schlossen die anderen sich wortreich an, um nichts
falsch zu machen. Der Karl jedenfalls erklärte seinen verdutzten Zuhörern, er
habe seine Bestimmung in Friedenszeiten gefunden und gedenke, sein
dichterisches und kompositorisches Werk zügig zu erweitern. Und da eine überaus
wachtelige Stadträtin sich in den Kopf gesetzt hatte, die Stadt brauche einen
Dichter, der die ereignislose Ortsgeschichte in ein schmetterndes Singspiel
gieße, bewarb er sich darum. Mit Verweis auf seine Visitenkarte versicherte er,
dass er sich selbstverständlich auch den kompositorischen Anforderungen des
geplanten Jahrhundertwerkes gewachsen sehe. Und so bekam der Karl offiziell den
Auftrag das Stück zu schreiben.
Der Auftrag platzte allerdings, weil schon die ersten acht Manuskriptseiten,
die der Schlammerl nach mühevollem Gekritzel vorlegte, so hundserbärmlich schlecht
waren, dass man ihm den Auftrag entzog und die Verantwortung für alles
Geschehene der sozialdemokratischen Opposition zuwies, die wie üblich nicht
wusste, wie ihr geschah. Das „Ortsblatt“ jedenfalls berichtete ausführlich, und
so war der Karl nicht nur öffentlich erledigt. Er wurde auch vom angetrauten
Glück seines Lebens täglich so ungespitzt in den Boden gehauen, dass er sich am
Stammtisch nie wieder sehen ließ. Und als der Rechtsanwalt Eberl, der trotz
liberaler Gesinnung ein langjähriges Stammtisch-Mitglied war, also als der ihm
begegnete, schaute der Schlammerl auf seinem Radl stur geradeaus und tat, als
würde er ihn nicht sehen.
Man wird zu Recht davon ausgehen, dass die umfassende „narzisstische Kränkung“
dem Schlammerl jeden Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Drei Jahre später
verstarb er, ohne jemals wieder dichterisch in Erscheinung getreten zu sein. –
Aber was ist da eigentlich passiert?
Die US-Sozialpsychologen David Dunning und Justin Kruger bieten uns mit ihrer 1999
erschienenen Publikation eine Erklärung, die als „Dunning-Kruger-Effekt“
weltweit Beachtung fand. Der lässt sich in wenige Worte fassen: Je dümmer desto
selbstgewisser. In akademischer Höflichkeit formuliert, bedeutet er, dass
inkompetente Menschen eine ausgeprägte
Neigung haben, die eigenen Fähigkeiten zu überschätzen, die
überlegenen Fähigkeiten anderer nicht zu erkennen, und nicht einmal das Ausmaß
ihrer eigenen Inkompetenz richtig einzuschätzen. – Das Ergebnis sind bei jedem
Fußballturnier Millionen selbsternannter Fußballtrainer; junge Autofahrer – die
unfallträchtigste Gruppe überhaupt –
sind maßlos überzeugt von den eigenen Fähigkeiten; und in einschlägigen
Castingshows finden sich die größten Stümper, beseelt vom Wahn, die unfähige
Jury erkenne ihre Genialität nicht.
Ein von seiner Einzigartigkeit überzeugter amerikanischer Präsident zelebrierte
sich in völliger Verkennung seiner Geistesgaben als klima- bzw.
pandemiekompetent. Ein ehemaliger Polizist vermeint ernsthaft, den
verfassungsrechtlichen Status der Bundesrepublik beurteilen zu können und
stufte sie als nicht existent ein, während das „Deutsche Reich“ unbeirrbar
weiterlebe, – in welchem Hirn auch immer. Die Straßen unserer Großstädte füllen
sich regelmäßig mit selbsternannten Virologen und Verschwörungsexperten, deren
Dummheit zum Himmel schreit. Nur, gerade WEIL Halbwissende nicht
nur die eigene Inkompetenz, sondern auch die Kompetenz anderer verkennen, sehen
sie keinerlei Notwendigkeit, sich weiterzubilden und damit ihre Kompetenz zu
steigern. Die haben sie ja schon, insbesondere auf dem Gebiet der medizinischen
Statistik und der Epidemiologie, schließlich haben sie alle mal rechnen
gelernt. – So entstehen Blasen, die auch vor ehemaligen
Verfassungsschutzpräsidenten nicht Halt machen.
Unübersehbar erlag auch der alte SS-Mann einer sogenannten „superiority illusion“, der ich aus meiner eigenen Coachingerfahrung noch etwas hinzufügen möchte: Solch massive Selbstüberhöhungen basieren auf einem schwer geschädigten Selbstwertgefühl und aus dem verzweifelten Bedürfnis nach eigener Bedeutsamkeit: endlich „jemand“ sein! Die eigene Inkompetenz (und damit auch oft die eigene Chancenlosigkeit) wahrzunehmen, bedeutet nicht nur eine schwere Kränkung des ohnehin getretenen Selbstwertes. Sie erfordert neben der Kompetenz zur schmerzvollen Wahrnehmung eigener Inkompetenz auch die Aufgabe massivster narzisstischer Abwehrstrategien, die das Ego wenigstens bisher über Wasser hielten: Nur die Verleugnung evidenter Tatsachen schützt vor der von ihnen transportierten Erfahrung der eigenen Begrenztheit, und gerade dies führt zu jener panischen Unbeirrbarkeit, die schnell in Hass und Gebrüll verfällt: Die Einsicht der Realität bedeutet Entwertung, doch gerade aus dieser besteht ein Großteil eigener Lebenserfahrung. Schon werden Juden, Muslime, Klimaforscher, Virologen, etc. zur Projektionsfläche eigener Selbstwertproblematik.
Der Schlammerl Karl war einer jener Schlächter, die in der unseligen Tradition unserer Gründungsjahre niemals eine Strafkammer von innen sahen. Sein Geltungsbedürfnis zeigt sich in seinen Größenfantasien vom „Aufräumen“ und von der phantasierten Entscheidungskompetenz, wer in unserem Land alles „weg“ gehöre. – Auf solch willigen Dummköpfen, die ein Gewehr und damit eigene Macht in den Händen hielten, basierte Hitlers Vernichtungsmaschine. Nur war es so, dass die „Übermenschen“ nicht als gefeierte „Söhne“ heimkehrten, sondern als weltweit geächtete Massenmörder. Dazu kamen Berge von Schuldgefühlen, die selbstredend verdrängt und bissig bestritten wurden, sowie die bittere Erkenntnis, als vormalige „Elite“ nun nichts anderes zu sein als ein trauriger Haufen. Stoff genug für jegliche Form von Kompensationsstrategien. Die einen wurden Staatssekretär oder Abgeordnete, die anderen ließen sich irgendetwas einfallen, um nicht so elend dazustehen, wie sie tatsächlich waren. Denn klar ist ohnehin: Um Rassist zu sein oder Klimaleugner, Coronaleugner oder auch vegan kochender Verschwörungspapst, bedarf es eines massiven ungelösten Problems. Das allerdings liegt stets innen und nicht außen.