„Ich
kann nicht mehr. Ich hab keine Kraft mehr, die picken alle nur noch auf mir rum!
Fühl mich nur noch Scheiße, Scheiße, Scheiße!“
So zusammengesunken, wie Torsten dasitzt, glaubt man ihm das gern. Der
Mittvierziger hat weiße Ringe unter den müden Augen, die Schultern hängen, die
Finger sind unentwegt in Bewegung, und er blickt mich an wie ein angeschossenes
Tier, das sich zum Sterben ins Unterholz legen will.
„Was genau machen die?“
„Sie kritisieren unentwegt an mir herum und machen meine Arbeit schlecht. Inzwischen
bin ich so dünnhäutig geworden, dass ich dann regelmäßig explodiere. Jetzt
haben die mir mit Kündigung gedroht. Nach vierzehn Jahren bei der Firma!“
„Sie fühlen sich gemobbt.“
„Ja.“, sagt er und bekommt ganz nasse Augen.
Manchmal kann Weinen auch Ablenkung sein, hier allerdings ist es blanke
Verzweiflung.
„Haben Sie eine Vorstellung, warum die das auf einmal mit Ihnen machen?
Erkennen Sie irgendwelche Motive dahinter?“
Als Antwort kommt ein langer, von Schluchzen unterbrochener, konfuser Monolog,
demzufolge seine Arbeit einwandfrei sei und keinen Grund zur Beanstandung gebe.
Vielmehr gehe es den anderen darum, ihn rauszumobben, er fühle sich hier völlig
hilflos. Ich lausche, versuche Muster in der Wortlawine zu entdecken, Themen,
unbewusste Wünsche: niente! Damit ist klar, dass der Monolog keine echte
Mitteilungscharakteristik besitzt, sondern das Gegenteil: Er soll vernebeln,
gewiss nicht bewusst und absichtlich, sondern als Ausdruck eines massiven
unbewussten Widerstandes. Dahinter verbirgt sich mit absoluter Sicherheit ein
relevantes Thema. – Oft blicke ich auf die Uhr während der Coachings, denn sie
ist mir ein wichtiger Helfer: aus dem Zeitverlauf entnehme ich die Dynamik des
Gesprächs und damit wichtige Informationen über die Dimension des tiefsitzenden
Verborgenen.
Was ist so brisant, dass sein Bewusstsein es weggeschlossen hat? Fragen führen
zu nichts außer Geschwurbel, es lässt sich mit Händen greifen, dass sich da Einer
einspreizt gegen etwas, mit dem er sich keinesfalls konfrontieren will.
Jedenfalls: Es gibt ein massiv verdrängtes Thema, das ihn enorm viel Kraft
kostet. Und nach einigen Sitzungen schält sich heraus, dass es nicht der Job
ist, der ihn ausbluten lässt. Vielmehr kommt er schon morgens kraftlos ins
Büro.
Und wie in der Evolution stets zu beobachten: Lässt jemand Blut ins Wasser,
dann wimmelt es ganz schnell von Raubfischen.
So arbeiten wir heraus, dass die Ursache seiner Verausgabung außerhalb des
Berufs liegt. Das hilft uns weiter, aber auch wieder nicht; denn Fragen führen
zu einer erkennbaren Überbetonung, dass privat alles in Ordnung sei und „nur
die Arbeitsatmosphäre“ korrigiert werden müsse. – Da ist es also, das Anliegen
an den Coach: Sagen Sie mir etwas, das mich so stark macht, dass man mir mit
einem Vorschlaghammer ins Kreuz hauen kann, und der Hammer zerbricht in tausend
Stücke. – Häufiges Phänomen bei Coachingklienten: Man erwartet vom Coach den Zauberspruch
(„Sie können doch Hypnose!“), dann lässt sich die Selbstkonfrontation mit umgehen.
Die Verantwortung für sich selbst wird nach außen projiziert und dem Magier
Coach zugeschanzt, der „nur das Richtige sagen“ muss, schon funzt es wieder. –
Papa, mach du das für mich!
Wenn alles in Ordnung ist, wo kommen die Beschwerden her?
Torstens meist recht langatmige Ergüsse enthalten alles Mögliche: das Auto, die
Ausflüge, den Urlaub, die Kinder, die Eltern, die Rasenpflege, den Sportverein.
– Da ist sie also, die Information! Nach 20 Jahren Coachingpraxis habe ich mir
einen einfachen Lehrsatz aufgestellt: Wenn in den ersten drei Sitzungen die
Partnerin nicht vorkommt, ist das eine verschlüsselte Botschaft. Es gibt ein
Problem mit der Dame, doch besteht eine Angstbarriere, das alles an- und
auszusprechen. Torsten verdrängt etwas, so haben wir ein Tabuthema entdeckt, an
dem keinesfalls gerührt werden darf.
Grundfalsch wäre jetzt, den Klienten mit dieser Information zu überfallen. Denn
ich unter dem Angstdruck würde er sich weiter zusammenziehen. Behutsames
Voranfragen ist angesagt, doch beziehungsmäßig ist „alles bestens“, klaro. – Treffer!
Ist jemand glücklich in seiner Beziehung, signalisiert er das nonverbal:
leuchtende Augen, strahlende Mimik, Körpersprache. Werden hingegen „Positiva“ mit
hängenden Schultern aufgezählt, kann man sehen, wie mit aller Gewalt der Deckel
draufgehalten wird. Ich weiß nicht mehr, wie Viele ich schon bei mir sitzen hatte,
die mit traurigen Augen ihre/n Partner/in gepriesen haben.
So schält sich Torstens Ehetragödie Stück für Stück heraus, wie sie ihn aufzehrt,
dass er im Beruf versagt und von allen Seiten Prügel einsteckt. Torsten ist ein
ehrlicher Kerl und eine treue Seele, darum hat er seine Frau Alice bisher in
Schutz genommen. Nun aber steigen all die viel zu lange aufgestauten Gefühle in
ihm hoch: Schmerz, Trauer, Wut. Alice hält ihn am Haken wie einen gefangenen
Fisch. Sie zieht ihn herrisch an sich heran und stößt ihn genauso herrisch wieder
zurück. Torsten reagiert komplementär: Zieht sie ihn zu sich, dann ist er
glücklich und hofft darauf, „dass es jetzt endlich mal so bleibt.“ Stößt sie
ihn – jedes Mal wieder unerwartet – von sich, leidet er furchtbar.
„Sie glauben nicht, was diese Frau mich aus dem Nichts heraus anschreit! Dann
nennt sie mich ein Weichei und einen ewigen Versager und wirft mir vor, dass
ich im Leben nichts zustande gebracht habe! Dabei haben wir ein schönes Haus,
das ist schon fast abbezahlt! Wenn ich mal zwei-drei Tage auf Geschäftsreise
muss und völlig k.o. zurückkomme, spricht sie Tage lang nicht mit mir, weil ich
sie ja ‚allein gelassen‘ habe! Sie will nicht begreifen, dass das mein Beruf
ist und dass mich das ernährt!“ – Hysterische Egozentrik nennt man das, der
Mann zittert am ganzen Körper, jetzt wo alles Verdrängte durchbricht. Natürlich
tut er, was alle Opfer von Hysterikerinnen tun: Er argumentiert getroffen und ehrlich
bemüht gegen ihre Verdrehungen an und genau
damit scheitert er lehrbuchmäßig an der Alogik der Hysterica, die nur ein
einziges Ziel kennt: Die aufschäumende innere Anspannung muss entladen werden,
indem sie einen anderen klein macht, – und schuldig. Wer also versucht, mit ihr
sachlich zu diskutieren, der unterwirft sich ihrer Taktik und liefert ihr noch
dazu die Munition für weitere Verdrehungen.
Auf diese Weise installiert sich für Torsten eine brutale Abhängigkeit. Er kämpft
unentwegt um Zuneigung, doch kommt er nie an, denn in hysterisch geprägten Partnerschaften
gibt es keine Stabilität, höchstens vorübergehende Kampfstille. Heftige Wellenschläge,
dramatische Szenen, Ausbrüche, kurzfristige Versöhnungen, und dann geht´s
wieder von vorne los. Die einzig wirksame Methode ist Festigkeit: Rücken
gerade, nicht nachgeben, keine Diskussionsangebote annehmen, notfalls einfach
gehen! Und unbedingt: Grenzen setzen, Grenzen setzen, Grenzen setzen!
Es springt ins Auge, wie kindlich Torsten sich manipulieren lässt: Immer wieder
läuft er hin zu ihr, bettelt um Zuneigung und bekommt eine gewischt. Sexuelle
Abweisung als Herrschaftsinstrument ist der Normalfall, so fällt einem der Satz
des Verhaltensforschers Eibl-Eibesfeldt ein: „In Zeiten der Gefahr suchen Entenjunge
die Nähe der Mutter, selbst wenn sie von dieser misshandelt werden.“
Erst jetzt gewinnen unsere Gespräche Tiefe: Konfrontiert mit eigenen Verdrängungen
berichtet Torsten von prägenden Kindheitserfahrungen, von der Einsamkeit in
seinem Elternhaus und von dem Unglück, das sein Alltag für ihn darstellte. Die
Mutter eine kalte, egozentrische Person, nur auf sich selbst fokussiert. Weder
bekam er Frühstück noch Mittagessen noch Abendessen: Er hatte sich selbst zu
verpflegen, lernte frühzeitig zu kochen. Nur war der Kühlschrank allzu oft
leer, was die Mutter nicht interessierte, denn sie sonnte sich lieber im Garten.
Torsten bekam sein Mittagessen bei einem Klassenkameraden, dessen Mutter sich erbarmte.
Der Vater, ein hochkorrekter und damit emotional flacher Beamter, hatte ihm
kaum mehr mitzugeben als Belehrungen, wenn er mal zuhause war. Er schnackselte nämliche
eine jüngere Geschäftsfrau aus der Stadt und fuhr schließlich ganz offen mit
ihr in Urlaub. Die Ehefrau ließ ihren strafenden Unmut durch kalte Vernachlässigung
an Torsten aus, denn er war das Kind des untreuen Vaters.
Wir brauchten lange, bis er die innere Stärke entwickelte, Alice gegenüber
aufsässig zu werden und mit seinem Auszug zu drohen. Die vom Donner gerührte
Alice verstand die Welt nicht mehr und begab sich kleinlaut zurück auf
Augenhöhe. Torsten war mächtig stolz auf sich: Seine erfolgreiche Ich-Stärkung hatte
ihm ein selbstgeschaffenes Erlebnis von Behauptung geschenkt, schlagartig
verbesserte sich seine betriebliche Performance.
Drei Monate später schickte er mir eine Mail: Alice konnte er nicht verändern,
doch er hatte Techniken entwickelt sich abzugrenzen. Nonverbale Kommunikation
ist halt alles: Man kann sich klein machen oder stehen bleiben.
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