Über den Mörder im Menschen.

Nichts genießt der Mensch mehr als geteilte Gemeinheiten. Also befanden wir drei uns in bester Stimmung, als wir nach unserem ersten Klassentreffen nach dreißig Jahren den Rückweg antraten. Oschi leitete jetzt ein deutsches Stahlwerk in Nordchina, Heini war Lehrer für Gehörlose in Köln geworden und wirkte immer noch so zerstreut wie damals, und ich amüsierte mich über Oschis entsetzte Bissigkeiten zu unseren alten Mitschülern genauso wie der vergeistigte Heini. Irgendwie war es das vertraute Sammelsurium seltsam schräger Typen gewesen, und nur wenige von ihnen hatten einen nonkonformen Lebensweg eingeschlagen, während neunzig Prozent so bieder und spießig geblieben waren, wie sich schon zu Abiturzeiten befürchten ließ. – Wir hatten, von München kommend, Stunden Zeit um abzulästern. Zwischendurch lösten wir einander am Steuer meines Wagens ab und rauschten die fünfhundertfünzig Kilometer bis Bonn entspannt durch. Dort würden die Beiden den Zug besteigen und ich nach Hause fahren.

Nachdem wir bei Koblenz den Rhein überquert hatten, rollten wir vergnügt auf der B9 von Süden her nach Remagen hinein und standen plötzlich in einem Stau, wo sonst nie einer war. Vor uns, mitten auf der Hauptstraße, stieg ein Hubschrauber auf. Vor einem Haus mit lindgrüner Fassade lagen ein geflochtener Korb und ein Fernseher auf dem Asphalt, während zwei Polizisten uns daran vorbeiwinkten. Aufgedreht feixten wir, was für eine Wahnsinnsparty hier im Gang gewesen sein musste, dann löste der Stau sich auch schon auf.

Wahnsinn war es tatsächlich gewesen. Im Haus lagen drei frisch Ermordete, nicht weit davon ein vierter. Der Fall hielt die deutsche Öffentlichkeit wochenlang in Atem.

Der Täter, ein Mann mit schwerstkrimineller Vergangenheit und bereits einem Mord und zwei Vergewaltigungen auf dem Gewissen, war ohne jedes Mitgefühl vorgegangen. Er hatte nach seiner Flucht aus der Haft in der im Umbau befindlichen Villa des ersten Opfers heimlich übernachtet. Als der 71jährige Eigentümer, ein geachteter Remagener Unternehmer, ihn dort antraf, stach der Täter ihm in den Hals. Kurz danach klingelte das Handy des Opfers. Der anrufenden Ehefrau erklärte er, ihrem Mann sei etwas zugestoßen, alles weitere werde er ihr besser persönlich mitteilen, und ließ sich die Adresse geben. Dort eingetroffen, erstach er die Ehefrau sowie deren Bruder und dessen Frau. Auf seiner Flucht beging er mehrere Raubüberfälle und versuchte eine 16jährige zu vergewaltigen; er entführte eine 19jährige und beging einen weiteren Raub. Ein unschuldiger Tourist, fälschlich mit dem Täter verwechselt, wurde von der Polizei erschossen. Dann hatten sie ihn endlich.

Der Richter, der ihn zu lebenslanger Sicherungsverwahrung verurteilte, beschrieb ihn als „Intensivstraftäter mit niedriger Hemmschwelle für Gewalttaten“, mit einem Verhaltensmuster, dem er seit seiner Kindheit folge: er nehme keine Rücksicht auf seine Opfer, wenn es ihm um die Befriedigung seiner Bedürfnisse gehe. Zum Schluss der Urteilsbegründung sagte der Richter, wenn der Täter darüber nachdenke, sei er „vielleicht selbst froh, nicht mehr frei zu kommen.“

Der klassische Schwerkriminelle also. Aber was ist das eigentlich?

Menschen mit solchen Eigenschaften sind seltsam Getriebene. Nichts außer ihnen ist ihnen wichtig, stets fühlen sie sich vernachlässigt, verkannt und zu kurz gekommen, schnell langweilen sie sich, gehen daher alle möglichen und unmöglichen Risiken ein, und wenn sie etwas haben wollen, dann zählen weder Anstand noch Mitgefühl noch Verantwortung. Sie gehen problemlos über Leichen, und notfalls befriedigen sie sich auch noch an denen. Die Diagnose lautet: Antisoziale (oder auch: dissoziale) Persönlichkeitsstörung.

Einer meiner ersten Kindergartengefährten war der kleine Horsti, eine üble Type: Er verdrosch uns, nahm uns das Spielzeug weg, raubte uns das Pausenessen, war freundlich, wenn er etwas wollte, und rücksichtslos, wenn ihm einer von uns im Weg war, und wurde schon bald von den Nonnen aus dem Kindergarten geworfen. Sein Vater war Kriminalbeamter und zuvor schon bei der Gestapo gewesen. Als Teenager verbreitete der Horsti Angst und Schrecken wegen seiner zügellosen Gewalttätigkeit. Während die anderen aus seiner Gruppe sich erst betranken, um eine Schlägerei anzufangen, peilte Horsti immer aus kalten Augen und völlig nüchtern nach einem Opfer, das er dann genussvoll zurichtete. Auch seine Freundin prügelte er gelegentlich rücklings über eine Hecke, was sie nicht hinderte, seine Frau zu werden. Nach einer mehrjährigen Haftstrafe wurde er auf Bewährung entlassen und stieg nachts prompt in das Kinderzimmer einer Zehnjährigen ein, der er erzählte, er habe als Kind niemals Liebe erfahren. Die Polizei fand das unwesentlich und buchtete ihn wieder ein. Als ich ihn zwanzig Jahre später zufällig sah, war er der klassische Hardcore-Kriminelle und hatte schon diverse Jahre gesessen. Seine Frau hatte harte Züge bekommen, doch seltsamerweise strahlte sie auch eine starke Persönlichkeit aus: Gangsterbraut.

„Ja varreck!“, sagte mir der Eisenberger Günther, der seinerzeit Mitglied von Horstis Gang gewesen war. „Treff i den Horsti nach zwanz´g Jahr zufällig wieder, und des Erste, was er mir erzählt, is sein letztes Feuergefecht in Frankfurt! Er mag koane Türken, sagt er.“ – Konsequente Entwicklung nennt man sowas.

Typisch für diese Persönlichkeitsstörung sind Verantwortungslosigkeit und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen, fehlendes Schuldbewusstsein sowie ein nur geringes Einfühlungsvermögen in die Bedürfnisse, geschweige denn das Leiden anderer. Oft bestehen eine niedrige Schwelle für aggressives oder gewalttätiges Verhalten, eine geringe Frustrationstoleranz sowie mangelnde Lernfähigkeit aufgrund von Erfahrung. Auch Strafen bleiben wirkungslos und werden als besondere Herausforderung durchgestanden. („Drei Jahr´ Bau? Drei-Jahr´-Bau??!! Auf EINER Backe sitz i die ab!“, sagte mir der Eisenberger, als sie ihn wieder einmal einkassiert hatten.) Beziehungen zu anderen Menschen werden eingegangen, sind jedoch nicht stabil und zerbrechen schnell an Nichtigkeiten und Ehrpusseligkeiten. Laut „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders 5“ sind etwa drei Prozent der Männer und ein Prozent der Frauen betroffen. Letztlich heißt das prägende Merkmal: Mangelnde Gewissensbildung.  – – Makaber allerdings: eine kleine Untergruppe der Betroffenen ist nicht kriminell geworden, sondern erfolgreich als Unternehmer. Das erklärt einen ganz bestimmten skrupellosen Typus.

Was die Entstehung der Störung betrifft, so vermutet man ein Zusammenwirken von biologischen, psychischen und umweltbezogenen Faktoren. Genetische Ursachen werden vermutet („geborener Berufskrimineller“), auf der anderen Seite kommen die Betroffenen oft aus zerrütteten Elternhäusern und mussten in ihrer Kindheit Gewalt, Vernachlässigung und kaum liebevolle Zuwendung erfahren. Kommen eine schwach aktive Variante des sogenannten MAO-A-Gens und körperliche Misshandlung bzw. Missbrauch in der Kindheit zusammen, ist die Katastrophe vorprogrammiert: Das Enzym Monoaminooxidase-A liegt dann in geringeren Mengen vor. Dies wiederum führt zu einer erhöhten Ausschüttung der Botenstoffe Serotonin, Dopamin und Noradrenalin im Gehirn, die sich auf Aggressivität und Impulsivität auswirken können: Es erklärt die klassische Reizbarkeit und Unbeherrschtheit solcher Typen. Auch finden sich Hinweise auf eine hirnorganische Fehlfunktion im Bereich des Frontallappens. Ein Defizit im limbischen, paralimbischen System sowie in den neokortikalen und frontalen Strukturen des Gehirns ist verantwortlich für ein Defizit in emotionalen, motivationalen, motorischen und auch kognitiven Verarbeitungsprozessen. Beeinträchtigt sind demnach der präfrontale Kortex und der Schläfenlappen, insbesondere die Amygdala, der Hippocampus und eine der drei Hirnwindungen des Temporallappens der Großhirnrinde. Diese sind am Erlernen von Furchtreaktionen sowie der Funktion von Moral- und Mitgefühl beteiligt. Aus psychoanalytischer Sicht hingegen lassen die Aufwuchsbedingungen kein Urvertrauen entstehen. Dadurch können die Betroffenen keine emotionalen Bindungen eingehen und entwickeln nur Beziehungen, in denen sie Macht ausüben können oder sich zerstörerisch verhalten. Die Behandlungschancen werden von der Fachliteratur insgesamt eher skeptisch eingeschätzt.

Aber wenigstens der Eisenberger, dessen bierbedingtes Übergewicht und daraus resultierende Behäbigkeit ihm inzwischen jede Eignung für etwaige eigene Feuergefechte entzogen hatten, heiratete die Geli. Er übernahm von ihrem Vater den Handwerksbetrieb, zog seine beiden Kinder groß und auch die beiden aus Gelis erster Ehe und verbürgerlichte bis zur Unerträglichkeit. Der Remagener Täter sitzt. Und der Horsti auch immer wieder mal.

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