Etwas Unruhiges geht aus von Product Manager Joe. Etwas Greifendes, Saugendes, Auf-sich-Hinweisendes, das man als bedrängend empfindet: Er benötigt unentwegt Aufmerksamkeit und Zustimmung, Bestätigung, Rückversicherung, muss die Gewissheit haben, dass er im Zentrum des Interesses seines Gegenübers steht, und besteht darauf, dass nichts von ihm ablenken darf. Aufmerksamkeitsverlust kränkt ihn schmerzhaft. Und – so haben wir es inzwischen erarbeitet – die Verlusterfahrung steigt in ihm hoch wie eine saure Fontäne und verzerrt seinen Blick auf die Realität wie ein umgelegter Schalter: Das vielleicht nur gedankenlose oder anderwärts beschäftigte Gegenüber wird als lieblos erlebt, als verwehrend, und wenn der Schmerz darüber zu stark wird, gar als Verräter. Dann ist es nicht mehr weit bis zum klagend-anklagenden Gegenangriff, der die Konfliktspirale in Gang setzt, an deren Ende Joe dann mal wieder als Geschlagener abziehen muss: „Geh zu Mama und wein ´ dich aus, du Pussy!“ Oder etwas vornehmer: „Die von Ihnen als Mitarbeiter häufig grundlos initiierten Konflikte in unserer Firma veranlassen uns, die Sinnhaftigkeit einer weiteren Zusammenarbeit kritisch zu hinterfragen.“
Ja, etwas Seltsames geht von Joe aus: Er hungert nach Annahme, und dieser Hunger schiebt sich in jeder Beziehung, sei sie arbeitsmäßig oder privater Natur, vor die coole Pose, und sie stellt sich zwischen Joe und seinen Gesprächspartner, – und damit auch zwischen Joe und den Erfolg. Denn sein Gezicke lädt nicht dazu ein, den Kontakt mit ihm zu vertiefen. Andererseits, wird die Beziehung zu nahe, so erlebt Joe sie als erstickend und wird zum Flüchter. – Selbstverständlich nicht ohne die Schuld dafür auf das Gegenüber zu projizieren: „Die wurde mir zu besitzergreifend.“ Mehrere Frauenbeziehungen hat er nach diesem Muster erst feurig initiiert und dann überstürzt gekappt. Am Ende bleibt er allein, privat und im Job, und er irrt planlos weiter umher, auf seiner steten Suche nach Zuwendung, die er sich am Ende selbst sabotiert. Zusätzlich piesacken ihn körperliche Beschwerden, die sich klinisch nicht diagnostizieren lassen. – Man wird sich fragen müssen, wie Joe´s Cortisolspiegel aussieht.
Schwer zu übersehen, dass etwas mit Joe´s Beziehungsfähigkeit nicht stimmt. Sein Beziehungsverhalten ist zutiefst unsicher: Er kann Beziehungsangebote nicht annehmen, da sie ihn offenbar ängstigen. Andererseits terrorisiert er seine gesamte Arbeitsumgebung mit seinem unausgesprochenen Beziehungs- und Nähewunsch. – Also, was jetzt, Joe? Kaum spreche ich es an, werde ich empört angefahren: „Wieso muss ICH in Vorleistung gehen? Wieso denn ICH? Habe ICH nicht auch das Recht darauf, geliebt zu werden?“ – Schon, Joe. Nur gibt es leider keinen einklagbaren, geschweige denn vollstreckbaren Anspruch darauf. Stabiles Geliebtwerden muss erarbeitet werden. Einzige Ausnahme: Kinder. Sie, und hier herrscht weltweiter Konsens, haben ein Recht darauf, bedingungslos und grenzenlos geliebt zu werden.
Bedingungslos heißt: Sie haben dafür keine Vorleistung zu erbringen. Grenzenlos heißt: Sie können niemals auf ein Territorium gelangen, wo sie nicht mehr geliebt werden. – Sentimentales Geschwurbel? Weit gefehlt! Wissenschaftlich belegte Grundvoraussetzung für eine intakte psychische Entwicklung als Bedingung sozialer Funktionsfähigkeit. Basta.
Daran allerdings hapert es bei Joe: Die bisherigen Sitzungen haben ein subjektiv erlebtes Mutterbild ergeben, das Fragen aufwirft.
„Ein Trampel. Vom ersten Tag an hat die nie kapiert, was ich brauchte, und man wusste nie, wie sie reagieren würde. – Mal so, mal so.“
„Sie meinen, Sie wussten nie, ob sie liebevoll oder abweisend bzw. zurechtweisend reagieren würde?“
„Milde ausgedrückt: ja. Eigentlich hat sie mich mit ihrer Launenhaftigkeit tyrannisiert. Wenn man als Kind mit ihr kuscheln wollte, nahm sie einen liebevoll in den Arm und fand mittendrin einen Anlass, mich richtig zur Sau zu machen. Ich hab´ meist gar nicht begriffen, worum es ging. – – Ich glaube, die Ehe mit meinem Vater war nicht besonders gut.“
„Was hätten Sie gebraucht?“
„Irgendwas Stabiles. Jemanden, der auf mich eingeht. – – – Aber sie hatte nur immer so schlaue Allerweltsweisheiten, mit denen sie mich abgefertigt hat. Mir schien, sie hatte den ganzen katholischen Katechismus auswendig gelernt.“
Nicht wirklich böse, aber oft herrisch, unsensibel, grenzverletzend, kaum Einfühlungsvermögen, und leider allzu stark beschränkt auf die eigene enge Vorstellungswelt.- Und am Ende nicht verlässlich im Hinblick auf die Nähebedürfnisse little Joe´s.
Zu fragen also ist, was mit Joe´s Beziehungsfähigkeit los ist: In jedem Lebensbereich fordert er eine feste Bindung ein und zerschlägt sie, wenn sie einzutreten droht. Aber was eigentlich ist Bindung und wie wirkt sie sich aus? Eine Antwort findet sich bei dem britischen Psychiater John Bowlby, dessen Arbeiten zur sogenannten Bindungstheorie aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts noch heute als bahnbrechend gelten. Eine gute Darstellung des Forschungsstandes hierzu gibt uns der Kinderpsychiater Karl-Heinz Brisch vom Hauner´schen Kinderspital in München: „Bindung ist ein motivationales System, welches das Überleben des Säuglings sichert. Sobald der Säugling eine sichere Bindung emotional erfährt, wird ein weiteres motivationales System, das der Neugier und Erkundungsfreude, angeregt. Die Qualität der Bindung im erwachsenen Alter wird durch Erfahrungen mit der Feinfühligkeit der Mutter während des ersten Lebensjahres, aber auch durch die Erfahrung der Feinfühligkeit des Vaters beim Spiel mit zweieinhalb Jahren beeinflusst. – Das Bindungssystem, das sich im ersten Lebensjahr entwickelt, bleibt während des gesamten Lebens aktiv.“
Und was passiert, wenn die Etablierung einer stabilen Bindung im ersten Lebensjahr schief läuft? Mehr als man sich gemeinhin vorstellen würde: Während Kinder, die eine stabile Bindung durch eine einfühlsame Mutter erfahren, sich in aller Regel lebenstüchtig, neugierig und zuversichtlich entwickeln, läuft es gänzlich anders, wenn sie eine abweisende Mutter-Erfahrung machen: Hier entwickelt sich eine „unsicher-vermeidende“ Bindungsqualität, da das Fehlen von Nähe, Schutz und Geborgenheit dazu führt, dass – vereinfacht dargestellt – Nähe aus reinem Selbstschutz erst gar nicht mehr gesucht wird. Dies allerdings führt zu einem reduzierten Explorationsverhalten (sprich: kindliche Neugier) und einer erhöhten inneren Stressbelastung des Säuglings, die sich an erhöhten Cortisol-Spiegeln messen lässt. Erfährt ein Säugling – so wie Joe – eine ambivalente Mutter, die sich mal fürsorglich, mal abweisend verhält, so entwickelt sich eine „unsicher-ambivalente“ Bindungsqualität. Vereinfacht dargestellt: Der Säugling klammert sich bindungssuchend an seine Mutter, strampelt jedoch auch aggressiv und tritt mit den Füßchen nach ihr. Wird der Widerspruch noch stärker, – verursacht die Mutter also das eine Mal Nähe, das andere Mal Angst, so ergibt sich eine sogenannte „desorganisierte Bindung“, die schon bei Säuglingen zu schweren Störungen führt: Stereotype motorische Verhaltensweisen; „Einfrieren“ mitten in der Bewegung; kurzfristige trancehafte Zustände. Auch hier sind die Cortisolspiegel deutlich erhöht. Alle diese Bindungsmuster werden im implizit-prozeduralen Gedächtnis abgespeichert, sozusagen als Blaupause für das zu erwartende Verhalten der menschlichen Umwelt.
Übrigens schlugen sich Unterschiede mütterlicher Fürsorge sogar im Tierversuch bei Ratten nieder: Fürsorgliche Rattenmütter hatten weniger ängstlichen Nachwuchs, der in Stresssituationen angemessenere hormonelle Reaktionen von Hypothalamus, Hypophyse und Nebennierenrinde (sog. HPA-Achse) zeigte. Sogar die molekulargenetischen Strukturen veränderten sich.
Für Joe, der sich selbst niemals kritisch reflektiert hatte, taten sich mit diesen Arbeitsergebnissen neue Welten auf. Er begriff unter erheblichem emotionalen Aufwand, dass er ein eingelerntes kindliches Reaktionsmuster unbewusst auf seine gesamten menschlichen Kontakte übertragen hatte: „Kann sein, dass du jetzt gerade nett zu mir bist, aber eigentlich weiß ich nie, woran ich mit dir wirklich bin, und das macht mich ziemlich wütend.“ In weiteren Sitzungen ergab sich, dass er sich stets auch Partnerinnen gesucht hatte, die diese ambivalent-oszillierenden Verhaltenssignale abgaben, – die ihm zwar vertraut waren, ihn jedoch auch immer wieder enttäuschten. Es gelang ihm, nach einer mehrmonatigen Phase stiller Selbstbeschäftigung aus seiner Spirale herauszufinden, indem er begriff, dass er die abgespeicherten Negativerwartungen solange auf seine Umwelt projiziert hatte, bis diese in seinem Sinne reagierte: abweisend. Da die Arbeitssituation schon ziemlich verfahren war, bat er um seine Versetzung in eine andere Abteilung, wo er sich problemlos neu etablieren konnte.