Über das Problem an sich.

Mir ist kein einziger Fall eines Krokodils bekannt, das sich geweigert hätte, eine unangenehme Realität zur Kenntnis zu nehmen. Das Gleiche gilt für Lurche, Störche, Waschbären und Kugelfische wie auch für den Rest der Schöpfung. Die einzige Ausnahme in diesem Reigen evolutionärer Vernunft bildet der Mensch. Jedenfalls weiß ich von keinem Tierarzt, der sich bei seinen Patienten mit Realitätsverweigerung, Realitätsverlust oder – wie es die Kliniker formulieren – mit dem „Versagen der Realitätsprüfung“ herumschlagen müsste. Was nicht heißt, dass Letztere aus tierischer Sicht nicht auch einmal schiefgehen könnte: Wenn ein Hund versehentlich einen Besucher beißt. Oder wenn ein Elefantenbulle einen freundlichen Touristen zertrampelt. Aus der Perspektive des verdrehten tierischen Realitätsbezugs jedenfalls bestand Eingriffsanlass.

Das ist auch naheliegend. Denn Realitätsbezug im Tierreich heißt: fressen oder gefressen werden; Territorium behaupten oder verlieren; Reproduktionspartner bewahren oder abgeben. Für eine Antilope ist eine herannahende Löwin nichts, was sich schönreden, umdeuten oder verleugnen ließe. Für einen Frosch ist eine Mücke nährstoffreiche Realität. Der Realitätsbezug ist conditio sine qua non, um überhaupt eine Chance aufs Überleben zu haben; und selbst dann funktioniert es bekanntlich nicht immer.

Natalie war da unbeirrbar anderer Meinung. Die gepflegte Anfangsvierzigerin mit der weichen Stimme saß im Vorstand eines mittelständischen Unternehmens und war für gut hundertvierzig Millionen Umsatz verantwortlich. Regelmäßig, wenn wir zusammen essen gingen, beklagte sie sich über den Druck, den rauen Ton, die für ihren Ehrgeiz zu sehr eingeschränkten budgetären Möglichkeiten. Die Situation und die harten Debatten berührten sie längst über das Geschäftliche hinaus und kränkten sie persönlich. Obwohl es letztlich um Finanzen und Strategien ging, begann sie unter dem internen Druck sichtlich abzubauen: Sie sah verbraucht aus, blass, bewegte sich fahrig. Die Stimme wirkte kraftlos und brüchig. Nach der Art ihrer Darstellung vorstandsinterner Debatten war sie das liebe Küken, das von dämonischen und autoritären Männergestalten regelrecht zerhackt wurde. Es waren keine Vorstandskollegen mehr, sondern Monster, deren Ziel nicht mehr in der Unternehmensführung zu bestehen schien, sondern in der Vernichtung eines kleinen Mädchens, als das sie sich dann fühlte. – Rotkäppchen und der Wolf, dachte ich.

„Ich glaube, deine Art diese Sitzungen zu erleben, prädestiniert dich für diese Angriffe.“
„Wie meinst du?“ Die Gabel mit den Spagetti Carbonara blieb auf halbem Weg zum Mund stehen.
„So wie du es schilderst, scheinst du unbewusst Opfersignale zu senden.“
„Sag mal, hast du sie eigentlich noch alle?“
„Ich meine, du solltest dich in eine analytische Therapie begeben.“
„Du willst mich hier aber nicht als Klientin akquirieren, oder?“
„Dafür kennen wir uns zu gut. Trotzdem musst du in Behandlung.“
„Ich glaub´s ja nicht!“ – Die Gabel knallt auf den Tisch. Madame macht einen rauschenden Abgang und schickt mir am nächsten Tag eine wütende Mail, in der sie mich ordentlich zusammenfaltet. Man ist schließlich Vorstand.

Ich bin nicht nachtragend, und so treffen wir uns noch mehrere Male beim Italiener, wo das Gespräch nach einem festen Schema verläuft: 1) Beklagen der beruflichen Situation und der Behandlung im Unternehmen; 2) Initiales Interesse für meine Empfehlung, sich in mehrjährige analytische Behandlung zu geben; 3) Gesprächsabschluss mit den Worten „Aber ich hab ja alles im Griff!“ und Totalrückzug auf die Ausgangsposition. Schlussendlich platzt mir der Kragen, und ich werde patzig, der Kontakt reißt ab.

Als ich sie zwei Jahre später auf der Straße treffe, fällt sie mir weinend um den Hals: Tags zuvor hatte sie einen psychischen Zusammenbruch, mitten in einer Vorstandssitzung. Sie ist für sechs Monate krankgeschrieben und beruflich suspendiert. – Nun plötzlich erzählt sie: Vom brutalen Regiment ihrer christlich-fundamentalistischen Eltern, für die die Sekte alles war und die Tochter nur ein sündhaftes Wesen, das mit täglicher Züchtigung auf den Weg der Tugend zu bringen war. Vom herrischen Ton des Vaters, der das Alte Testament rezitierte, während er hart zuschlug. Von der Kälte der Mutter, die sie nicht auffing, sondern geifernd ihre Schuldgefühle verstärkte und ihr den letzten Rest an Selbstwertgefühl nahm. Von Panik, Krampf und Erstarrung, die ein autoritärer Ton noch heute bei ihr auslöste bis zur völligen stammelnden Hilflosigkeit. – Der Hausarzt schafft es, sie in eine psychosomatische Klinik zu bringen. Allerdings hat er sie nicht überzeugt, sondern den Aufenthalt autoritär angeordnet und damit bereits dessen Scheitern programmiert: Natalie macht alles der Form halber mit, verweigert sich aber innerlich und wählt eine beliebte Ausweichstrategie: Sie beginnt eine hitzige Affäre mit einem Mitpatienten. Man spricht von der Sexualisierung eines Konflikts, so dass er nicht mehr bearbeitet zu werden braucht. Nicht ganz überraschend, ist der Klinik-Partner impotent, was ihre Zuneigung eher noch steigert: Der Mann hat seine Gefährlichkeit verloren.

Nach dem Aufenthalt geht es weiter wie bisher: Natalie verweigert jede Einsicht in ihren Zustand, wird gekündigt und stürzt wirtschaftlich vollkommen ab. Das Problem an sich wird weiterhin nicht angenommen, sondern verleugnet. Doch nur wer es für sich selbst akzeptiert, der kann es behandeln.

Alexander und Margarete Mitscherlich haben den „Verlust der Spezifizität“ als eine Art Sündenfall des Menschseins beschrieben. Während jedes Tier ganz genaue Determinanten seiner Existenz hat, warf der Mensch diese ab, als der Affe den Urwald verließ: Ein Webervogel wird stets ein ganz bestimmtes Nest auf einem ganz bestimmten Baum bauen, nach einer ganz bestimmten Methode. Ein Löwe wird seine Beute stets durch einen Nackenbiss töten und nicht mit dem Vorschlaghammer. Ein unterlegenes Eidechsenmännchen wird seine Unterwerfung stets durch Treteln mit den Vorderpfoten signalisieren und nicht per SMS. Die verhaltensbiologischen Muster sind seit Millionen Jahren unentrinnbar vorgegeben, und so wird kein Eisbär in der Karibik auf Fischfang gehen.

Mit dem Verlassen seines Affen-Habitats hat der Mensch seine stabilen Muster jedoch abgeworfen: Er ist unspezifisch geworden. Das hat ihm enorme Vorteile verschafft, jedoch auch eine tiefsitzende Unsicherheit, die ihn dazu verleitet sich stabile Wahrheiten zu suchen, um seiner Angst entgegenzuwirken und der verlorenen Spezifizität eine Art selbst erschaffener seelischer Heimat gegenüber zu stellen. Problematisch wird es nur, wenn das so konstruierte Selbstbild auf Kosten der Realitätswahrnehmung zementiert wird. Das Problem verdrängter Realität wird immer größer, während die Akzeptanz belastender Realität dem Menschen ermöglicht, Lösungsstrategien zu entwickeln. – Auch dies wieder eine Folge des Verlustes seiner Spezifizität: Mit den neuen Aufgabenstellungen außerhalb des Waldes hat sich der präfrontale Cortex stark vergrößert, der im menschlichen Gehirn zuständig ist für das Planerisch-Strategische. Das eröffnet eine Palette neuer Möglichkeiten. Umso weniger sollte vergessen werden, dass Realität gnadenlos ist und sich den Verdrängungsspielchen menschlicher Wahrnehmung niemals unterwerfen wird.

Natalie lernte es leider auf die ganz harte Tour: „Um wenigstens etwas zu tun“ begab sie sich für ein paar Stunden in eine verhaltenstherapeutische Behandlung, die in diesem konkreten Falle ungeeignet war, denn sie führte die lebenslang erfahrene Konditionierung fort und war außerdem viel zu kurz. Erst als sie psychisch und wirtschaftlich vollständig am Ende war, begann sie ihren Zustand zu akzeptieren: eine zutiefst traumatisierte Frau, die als Kind mehrfach psychisch gebrochen worden war und versuchte sich selbst an der Leistung wieder aufzurichten. Doch eben der Versuch, sich im Unternehmen als „braves Kind“ zu beweisen, indem die harten Regeln und die Selbstausbeutung der Kindheit unbewusst fortgeschrieben wurden, führte zur – in diesem Fall heilenden – Katastrophe. Nachdem sie das Problem an sich angenommen hatte, brauchte sie noch gute sechs Jahre psychoanalytischer Betreuung, um aus ihrer Erstarrung herauszufinden und den erfolgreichen Neuanfang in einem völlig neuen beruflichen Umfeld zu starten.

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