Über die illusionäre Verkennung.

Der ganze Mann wirkt irgendwie „gehalten“. Sein Hemd ist weiß, der Kragen steht, die einfarbige blaue Krawatte ist mit der Mikrometerschraube gebunden, und die ärmellose Weste sitzt wie auf dem Reißbrett. Nicht anders die mit dem Messer gescheitelten dunklen Haare: Kein einziges, das es auch nur wagen würde, sich dreist querzulegen. – So sieht gelebte Ordnung aus. Nicht Ordentlichkeit, sondern Ordnung an sich, der edelste aller menschlichen Werte, denn das Leben hat durchdacht und geregelt zu sein bis in seine letzten Falten. Der Herr, Ende dreißig vielleicht, hat eine kleine IT-Firma, und für die will er jetzt ein Direct-Mailing-Konzept, das ich ihm mit meiner Agentur erstellen soll. – Machen wir, klaro. Wir vereinbaren einen Termin für die Folgewoche, dann wird er uns in unseren Geschäftsräumen besuchen. „Bitte schicken Sie mir eine schriftliche Terminbestätigung!“, sagt er. „Es muss ja alles seine Ordnung haben.“ Na sicher doch.

Wenn ein zutiefst akkurater Mensch völlig zerrupft daherkommt, so ist das auch für einen abgeklärten Agenturchef befremdlich: Das Gesicht verschwollen, die Lippen dick und eingerissen. Von der linken Braue zieht sich außen ums Auge ein riesig-schwarzes Hämatom bis zum Wangenknochen. Um den Rand der linken Augenhöhle leuchtet dazu eine zentimeterlange schrundige Narbe. – Sieht nach Autounfall aus. Oder nach Sturz vom Balkon.
„Ja, um Himmels Willen!“, sage ich fassungslos.

Erst mal gibt´s eine Tasse Kaffee, die er vorsichtig und offensichtlich nicht schmerzfrei schlürft.
„Nix für ungut“, sage ich, „aber was ist denn passiert?“ Der Mann wirkt immer noch verstört. Etwa so, als hätte neben seinem zweifellos wohlgeordneten Frühstückstisch ein Artilleriegeschoss eingeschlagen.

„Ich bin nun mal ein disziplinierter Mensch.“, mümmelt er aufgewühlt und richtet sich dazu linealgerade. „Bei mir hat nun mal alles seinen Platz!“
„Jawoll!“, sage ich und kapier einfach nix.
„Vor fünf Tagen…“ – er ringt mit sich und atmet schwer – „habe ich mich zur Ruhe begeben. Ich sitze wie jeden Abend am Rand meines Bettes und hatte die Hosen bereits in den Spanner gehängt.“
„Aha!“
„Gerade als ich meinen rechten Schuh ausgezogen habe und ihn auf den Spanner ziehe…“ (Hmmm, Hosen aus, Schuhe an, denke ich mir? Junge, wie schläfst du?) „… bekomme ich einen furchtbaren Schlag auf das linke Auge. So stark, dass mein Brillenglas zerbrach! Und sofort begann ich zu bluten.“
Da wird einem ja doch anders.

„Zuerst war ich richtig benommen, dann schrie ich laut um Hilfe, denn ich dachte selbstverständlich an einen Überfall! Selbstverständlich!“
„Würd´ ich auch.“ Ich überlege, ob ich mir für solche Fälle nicht doch was in die Schublade legen soll.
„Oh Gott, mir schlug das Herz bis zum Hals! Ich konnte ja nichts erkennen! Es war ja dunkel!“ (Also halten wir fest: Licht aus. Hose ausziehen, über die Schuhe. Hose im Dunkeln auf den Spanner. Dann im Dunkeln auf den Bettrand setzen, Schuhe ausziehen und Spanner rein. Schuhe vermutlich im Dunkeln auf einen mnemotechnisch markierten Platz stellen, so dass man sie im Falle eines Brandes, einer Explosion des Hauses oder eines Überfalls durch die Truppen einer feindlichen Macht im besten Wortsinne blind greifen kann.)

Seine Brust, sie hebt und senkt sich. Es wabert in ihm. Furchtbares muss sich abgespielt haben, so wie er mich ansieht.
„Okay. Haben Sie die Polizei gerufen? Hat man den Kerl gefangen?“
„Nein“, kommt es aus gepressten Lippen, eine Stimme, aus der die Bitterkeit herausläuft wie aus einer überfahrenen Zitrone.
„Hmmmm…“
„Es war kein Überfall. Es war der Schuhspanner.“
Wenn ich es mir jemals im Leben hoch angerechnet habe, trotz inneren Explosionsdrucks ernst geblieben zu sein, dann in diesem Moment.
„Der Schuhsp…?“
„Ja!“ kommt es so abgehackt, als sei der Verrat eines Freundes bekannt zu geben.

Ein Schuhspanner, so weiß es der Gebildete, besteht aus drei Teilen: dem sogenannten konkaven Vorderblatt, der Teleskop-Feder und dem Fersenstück, das die sogenannte Hinterlappe ausfüllt. Deshalb ist es abgerundet und entwickelt am Ende einer hochschnellenden Teleskop-Feder die Wirkung eines Totschlägers. Zumindest in der Erlebniswelt meines Kunden, der nicht nur einen heftigen Einschlag kassierte, sondern auch den jähen Kollaps seiner wohldurchdachten Ordnungsprinzipien erfuhr: Etwas, das sich a priori unterzuordnen hatte, hatte sich eigenmächtig zum Aufruhr entschlossen und in grausamer Weise gegen seinen Herrn gewütet.

„Ich habe geschrien! Es war ja schließlich dunkel!“ Die Stimme bebt. Hier ist nicht nur ein meuchlerischer Mordanschlag zu beklagen, sondern die Weigerung der Welt, die von ihm erkannten Grundprinzipien zu achten. Wozu bitte hat man promoviert, wenn die Realität sich anschließend jedem Anspruch auf Überschaubarkeit entzieht?
„Jedenfalls, ich bin hochgeschnellt, um mich mit einem Faustschlag zu verteidigen! Aber da war natürlich niemand!“
„Mutig.“, presse ich zwischen den Lippen hervor, die ich fest aneinanderklebe, denn lange halte ich das hier nicht mehr aus.
„Und deshalb bin ich vom eigenen Schwung vornüber gestürzt. Auf die Kommode. Mit dem Gesicht auf die Kommode. Im Dunkeln.“

„Glmpf.“, sage ich.
„Wie bitte?“
„Schon gumpf.“ – Er merkt es nicht, so außer sich ist er. Es dürfte der bizarrste Überfall gewesen sein, den man mir jemals geschildert hat.

Als illusionäre Verkennung bezeichnet die Psychiatrie eine Sinnestäuschung, die auf einer Fehlinterpretation realer Sinneseindrücke beruht: Es wird etwas Vorhandenes wahrgenommen – aber nicht als das, was es ist. Meist ist sie das Resultat eines bestimmten, vorwiegend ängstlichen Gemütszustands. Nicht selten wird im Dunkeln eine Vogelscheuche als „Räuber“ interpretiert, ein Baumstumpf als hingekauerte Gestalt, ein Busch als Tier, ein Haufen Blätter als liegender Körper, eine aufgehängte Hose als Erhängter. Eine unbewusste Angst, nicht selten kombiniert mit dem Gefühl von Schwäche, Unterlegenheit oder Angreifbarkeit, bildet die Voraussetzung hierfür. Ein Kraftpaket, das mit der Gewissheit über eine nächtliche Landstraße schreitet, jeden umzuhauen, der ihm etwas will, wird hierfür weit weniger anfällig sein. So ist auch nicht erstaunlich, dass illusionäre Verkennungen im Bereich der Psychopathologie, nicht zuletzt der Schizophrenie, relativ häufig vorkommen. Abzugrenzen sind sie von den Wahnvorstellungen, wo etwas NICHT Existierendes wahrgenommen wird. – Bei der illusionären Verkennung also wird Realität falsch verarbeitet. Beim Wahn existiert sie erst gar nicht (weiße Mäuse, Stimmen, Strahlen, etc.)

Im obigen bizarren Fall lag offensichtlich eine angsthafte Grundgestimmtheit vor, die sich im starken Bedürfnis manifestierte, allen Bereichen des Lebens feste Regeln aufzuzwingen, so dass nichts Unkontrollierbares mehr entschlüpfen konnte. (Und nicht zuletzt auch im Bedürfnis, sich im Dunkeln zu entkleiden.) Wie rigide dieses System war, erweist sich daran, dass es bis unmittelbar in die Schlafvorbereitungen hineinreichte. Der hochgradig zwanghafte Charakter des Betroffenen legt die Deutung nahe, dass alleine schon das Entkommen eines Schuhspanners einen so massiven Bruch des eigenen Zwangssystems verkörperte, dass es nicht mehr anders erlebt werden konnte denn als massiver, gewaltsamer Angriff. – Der Zwanghafte hat Angst vor der Welt. Wer aber so erstarrt lebt, den versetzen ihre Buntheit und Lebendigkeit stets nur in Panik.

Eine Stunde, nachdem der Gast sich verabschiedet hatte, kam meine Sekretärin in mein Büro, sah Tränen über meine Wangen rollen und wollte aufgeregt wissen, was mir zugestoßen sei. Sie habe mich noch niemals weinen sehen. Ich hatte mich lange beherrscht, doch je länger ich über diese schräge Geschichte nachgedacht hatte, desto heftiger hatte ich am Ende losgeprustet. – Die illusionäre Verkennung meiner Mitarbeiterin also war ebenfalls nicht realitätsgemäß. Ich erzählte ihr alles, und so teilte sie meine Heiterkeit. – Aus dem Auftrag wurde übrigens nichts.

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