Über die letzte Freiheit.

Die wirklich Großen können auch kleiner sein. Erland war um die einssiebzig und man sah ihm seine unglaubliche Kraft nicht an. Vielleicht auch hatte die ruhige Freundlichkeit, die von ihm ausging, etwas Besänftigendes, das einen schlicht nicht auf den Gedanken brachte, er könnte mit einer Waffe umgehen wie andere mit Gabel und Messer. Jedenfalls war er einer der geradesten Menschen, denen ich je begegnet bin. To-the-point, ergebnisorientiert, und dazu stets freundlich, unkompliziert und total zuverlässig. Als er auf dem Sassenfjord einmal alleine mit seinem Schneescooter bis zur Brust ins Eis einbrach, rettete er sich, wo andere jämmerlich krepiert wären: Er schaffte es, den sinkenden Scooter loszulassen, ohne daran hängen zu bleiben und in die Tiefe gezogen zu werden, kriegte es fertig sich aus dem zwei Grad kalten Wasser zu hieven und sich mit der Brust auf das Packeis zu schieben, ohne dort sofort festzufrieren, was bei minus zweiundzwanzig Grad keine Selbstverständlichkeit war. Dann rannte er mit nassgesaugten Klamotten, die nun dreißig Kilo schwerer waren, um sein Leben, während sich um seinen ganzen Körper ein dicker Eispanzer bildete. Nach zwei Kilometern, auf denen jeder halbwegs vernünftige Mensch schon durch den Wind erfroren wäre, erreichte er eine einzeln stehende Hütte, nahm den quer eingeklemmten Balken von der Tür, der die Hütte gegen Eisbärenbesuche sicherte, und schaffte es hinein.

Es gibt ein arktisches Gesetz, einfach und überlebenswichtig: Wenn du in eine Hütte kommst, ist im Ofen das Feuer hergerichtet, und auf dem Tisch liegt eine Schachtel Streichhölzer, wohlweislich. Du brauchst nur noch anzuzünden. – Das Feuer war hergerichtet, aber es gab keine Streichhölzer. Erland suchte die komplette Hütte ab, während er schon am ganzen Körper schlotterte und blau angelaufen war. Der letzte Hüttenbesucher hatte verpennt, sie in der Hütte zu lassen. Normal stirbt man ja bei sowas.

Britt, seine Ehefrau, mit der er drei Kinder hatte, war gewohnt, dass er sich verspätete, denn die Arktis lässt keine Fahrpläne zu, und oft genug ist man erfreut, überhaupt lebend anzukommen. Sie war eine warmherzige und hübsche Norwegerin, größer und deutlich extrovertierter als er, mit schulterlangen blonden Haaren. Ihre Stimme war unerwartet kräftig, fast hölzern, und sie reichte in jedem Restaurant spielend über mehrere Tische. Als er zehn Stunden überfällig war, wurde sie unruhig und informierte den Gouverneur, der einen dreiköpfigen Suchtrupp aussandte. Handys oder GPS gab es damals noch nicht. Man kannte das Terrain, oder man hatte Karten dabei.

Der Suchtrupp brauchte vier Stunden. Sie entdeckten das Loch im Eis, auf dem sich bereits wieder eine Eishaut gebildet hatte, und da sie den Abdruck seines liegenden Körpers und die Eisklumpen erkannten, die beim Gehen von ihm abgeperlt waren, zählten sie zwei und zwei zusammen. Als sie an der Hütte ankamen und die Tür öffneten, erkannte Erland sie, stieß einen gellenden Schrei aus und brach bewusstlos zusammen. Sie hatten einige Mühe ihn zurückzuholen, doch als das Feuer brannte, ging es ihm langsam besser.

Erland hatte es geschafft, seinen Eispanzer auszuziehen und sich in die paar herumliegenden Decken aus den Schlafkojen zu hüllen. Da sie ihn im Liegen nicht genug wärmten, stieg er wieder in seine nassen Stiefel, räumte das spärliche Mobiliar beiseite und lief in der Hütte auf und ab, um seinen Körper warm zu halten. Zu dem Zeitpunkt, als die Jungs die Tür öffneten, war er vierzehn Stunden lang ohne Unterbrechung hin und her gerannt. Jedenfalls, fünf Wochen nach dem Vorfall war Erland auf unserer Inlandeisüberquerung zur Nordspitze von Spitzbergen dabei, – heiter, gelassen und stets so unglaublich freundlich, als wäre nie etwas gewesen. – Seine immense Erfahrung haute uns heraus, als wir südlich der Mosselbucht mitten auf dem Eis des Asgardfonna bei minus vierzig Grad die Orientierung verloren hatten. – „My father has an incredible mental strength.“, sagte sein Sohn Knut mir Jahre später.

Weltweit sind die Eisbären seit 1973 geschützt. Das ist gut so, denn alleine Erland hatte bis dahin schon 277 von ihnen erlegt. Wie die meisten Norweger war er ein passionierter Jäger, der der Natur mit ebenso großem Respekt entgegentrat wie er gerne Beute machte. Die 277 Bärenfelle brachten ihm ordentlich Geld und bildeten den Grundstock für das gemütliche Haus, das er sich später südlich von  Stavanger baute. – Man mag zur Eisbärenjagd stehen, wie man will, aber man muss das erst mal alles durchstehen. Nicht nur physisch, sondern auch mental. Ich bin genug von ihnen begegnet, um einen Höllenrespekt davor zu haben, der sich stets mit einer gehörigen Portion Zuneigung und Bewunderung vermischte. Die sich allerdings etwas abmilderte, als eine der Ladies aus vier-fünf Metern nach mir sprang.

Erland jedenfalls erledigte einen von ihnen nach dem anderen, und fast immer war er dabei alleine unterwegs. Eines Tages begegnete er an der Ostküste, etwa auf Höhe der Wichebucht, sieben von ihnen auf einmal. Normal sind sie Einzelgänger, aber bei wichtigen Themen scheinen sie Arbeitsgruppen zu bilden. Jedenfalls wollten sie nördlich das Bosleyfjells über den Johannsengletscher nach Westen in Richtung Tempelfjord.

Ein Mensch mit halbwegs intaktem Gehirn wird bei der Begegnung mit sieben ausgewachsenen Eisbären panisch Reißaus nehmen. Selbst wenn man einen oder zwei von ihnen erschießt, hat man keine Chance gegen die anderen, wenn sie erst einmal angreifen. Erland hingegen haute nicht ab, sondern erlegte sie alle sieben. Dann häutete er sie nacheinander ab, – jeder von ihnen zwischen fünfhundert und tausend Kilo schwer. Er war alleine, hundert Kilometer von seiner Grubensiedlung entfernt, die Temperatur lag bei minus fünfundzwanzig Grad. Später meinte er, er hätte geschwitzt wie selten in seinem Leben. Und er war verdammt stolz darauf und beanspruchte für sich den inoffiziellen Titel eines „World Champion of Polar Bear Hunters“.

Ich habe Erland überhaupt nur ein einziges Mal angeschlagen erlebt, als er sich auf Kapp Schoultz den Magen verdorben hatte und mit ziemlich weichen Knien herumlief. Volle zwei Stunden lang war ich in meinem Daunenschlafsack am Ufer des Fjords gelegen, um auf einen Polarfuchs zu warten, den ich fotografieren wollte. Als ich schließlich durchgefroren und stinkig den Reißverschluss aufzog, weil ich die Kälte  vom Boden her keine Minute länger aushielt, kam der possierliche kleine Kerl herangetrippelt und biss einen großen Klumpen Speck aus dem Kadaver einer von Erland abgehäuteten Robbe. Ich schoss ein paar gute Aufnahmen und war wieder versöhnt. Erland hatte seinen roten Survival-Anzug angezogen und lag die ganze Rückfahrt über schweigend in unserem kleinen Schlauchboot auf dem Achterdeck. Das bedeutete, dass es ihm wirklich dreckig gehen musste.

Ein paar Jahre später hätte ich ihn beinahe aus Versehen erschossen. Ich war schon seit Tagen alleine in meiner Hütte am Eisfjord, denn ein brutaler White-Out mit starkem Schneetreiben hielt mich dort eingesperrt. Man sah nicht einmal mehr die eigenen Füße, wenn man hinausging, und sobald ich die Gletscherbrille abnahm, wurde mir schwindlig und alles drehte sich, in einer Welt, die nur noch aus weißer Watte bestand. Also saß ich umhüllt vom Schweigen der Arktis in einem alten Couchsessel, versunken in tiefe philosophische Gedanken, als es draußen plötzlich gefährlich rumpelte. Ich wusste sofort, was los war.

Das ist die Situation, die du im Kopf schon dreißigtausend Mal durchgespielt hast, aber jetzt ist sie da.

Vor Schreck war ich erst zusammengefahren und dann aufgesprungen. Mein Herz raste, und ich fühlte, wie es in meinen Halsarterien hämmerte. Urplötzlich war mir klar: „Verdammte Scheiße, ich bin hier ganz allein!“ Es bedeutete, dass mein Leben nun von den sechs Schuss abhing, die in der Trommel meiner Smith & Wesson steckten, und dann fiel mir ein, dass ich diese vor zwei Tagen entladen hatte, weil die Verriegelung blockierte und die Trommel sich nicht mehr ausschwenken ließ. Das ist, man muss es so sagen, ein un-end-lich beschissenes Gefühl: Da draußen rumpelt ein Eisbär, und du sitzt alleine am Ende der Welt. In einer kleinen Hütte mit plötzlich sehr großen Fenstern. Mitten im White-Out. Wenn der so weit ist, dass er in eine Hütte rein will, dann ist er schon halb verrückt vor Hunger. Kein Mensch wird dich schreien hören, denn der White-Out verschluckt jedes Geräusch. Und wenn du eine Signalrakete in den Himmel schickst, dann sieht sie niemand, denn der White-Out verschluckt alles. – – – Meine einzige Chance – so viel war klar – bestand darin, möglichst schnell und möglichst viel zu schießen.

Ich hatte mir als Backup-Waffe mein Gewehr mitgebracht, eine Sauer 80 im Kaliber .300 Winchester Magnum. Das Magazin, das ich vorsorglich gefüllt hatte, fasste drei Patronen, und ich schob es mit fliegenden Fingern in die Waffe. Für einen Moment hielt ich die Büchse ratlos in der Hand, dann siegte meine Angriffslust, und in einer Mischung aus Panik und Überlebenswillen stürzte ich in den winzigen Windfang meiner Hütte.

Das liest sich alles großartig, aber es war nur Mist. Meine Nerven flatterten wie Wimpel in einem Tornado, und ich war erstaunt festzustellen, wie drastisch die Realität einer solchen Situation – nicht zuletzt die psychische Realität – von der zigtausend Mal imaginierten abwich. Tatsächlich spürte ich, dass ich dabei war, die Kontrolle über mich selbst zu verlieren und den dringenden Wunsch verspürte, einfach das gesamte Magazin durch die Tür zu jagen, um das verdammte Vieh zu neutralisieren.

Hätte ich meine Smith & Wesson in der Hand gehabt, wäre das ein Leichtes gewesen, und ich hätte – panisch wie ich war – keine Sekunde lang gezögert. Aber man versuche einmal, in einem sehr engen Hüttenwindfang mit einem ein Meter langen Gewehr zu hantieren, auf dem auch noch ein Zielfernrohr sitzt. Dieses nicht ganz unbedeutende kleine Detail rettete Erland das Leben. Denn als ich, gehemmt durch die unhandliche Waffe, einen Blick durch das kleine Guckfenster in der Hüttentür riskierte, dachte ich mir: „Nein, blaue Anoraks tragen sie nicht!“

„Erland!“ schrie ich fassungslos, als ich die Tür aufriss, in der Rechten noch immer die entsicherte Waffe.
„Did you dink it was de polar bear, hohohoho!“
„You idiot, I almost killed you!“
„Almost kill me, hohohoho!“
Erland kriegte sich gar nicht mehr ein vor Lachen und freute sich diebisch, dass sein Streich ihm so gut gelungen war, dass ich ihn beinahe erschossen hätte. Er blieb ungefähr eine Stunde, in der ich pausenlos meinen hämmernden Halspuls fühlte, und auch beim Gehen feixte er noch vergnügt. – Wie gesagt, er hatte Nerven wie Stahlseile. Wir hielten unseren Kontakt über Jahrzehnte, bis er sich umbrachte.

Er hatte Spitzbergen verlassen und war mit Britt in sein Haus bei Stavanger gezogen. Als er siebzig wurde, fiel seiner Frau und seinen Freunden auf, dass er begann dement zu werden, weil er immer mehr vergaß und immer öfter das Gleiche erzählte. Die ärztliche Untersuchung ergab, dass er Alzheymer hatte. Erland war ein Naturmensch, der ohne die freie Luft nicht atmen konnte, und so war er täglich auf den Bergen nahe Stavanger unterwegs. Britt, die ein Hüftproblem entwickelt hatte, blieb zu Hause, und abends gegen achtzehn Uhr pflegte Erland wieder einzutrudeln.

Eines Abends verspätete er sich. Britt, die dreißig Jahre mit ihm auf Spitzbergen verbracht hatte, war gewohnt, dass er sich verspätete, aber nach drei Stunden verständigte sie die Polizei. Der Suchtrupp fand ihn am nächsten Morgen zu Füßen einer Fünfzig-Meter-Steilwand des Selvikstakken in unwegsamem Gelände und barg seinen Leichnam mit dem Hubschrauber. Jemand aus dem Trupp hatte Fußspuren entdeckt, die direkt bis zur Abbruchkante der Steilwand führten. Offiziell galt es als Unfall.

Ich bin überhaupt kein Freund irgendeines Männlichkeitsgetues, mit dem in aller Regel nur innere Unsicherheit und ein baufälliges Selbstwertgefühl wegtrompetet werden sollen. Aber Erland war nun mal das, was man in Bayern als „Mannsbild“ bezeichnet: Ein in sich ruhendes Exemplar von Mann, willensstark, klarsichtig und mit starker Bodenhaftung. Als ich die Nachricht von den Umständen seines Todes empfing, war mir sofort klar, dass er eine letzte verantwortliche Entscheidung getroffen hatte und gesprungen war. Ein Kerl von Mann wie Erland hätte sich niemals selbst dabei zugesehen, wie er immer mehr abbaute und schließlich einging wie ein räudiger Fuchs. Seine Liebe zu Britt zeigte er dadurch, dass er es auswärts durchführte, auf seine unverwechselbare eigene Art: einsam und entschlossen. Er hätte es bequemer mit einer seiner Schrotflinten im Keller erledigen können, doch hätte er dann Britt, für die er sich bis zuletzt verantwortlich fühlte, auch das Haus genommen, denn ganz gewiss hätte sie dort nicht mehr leben können. Die Trauer um ihn war groß, auf Spitzbergen war er ein angesehener Mann gewesen.

Wann immer ich mit Britt telefonierte, freute ich mich über ihren Charme und ihre Herzlichkeit. Ähnlich wie Erland war sie gerade heraus, und ihre Warmherzigkeit machte jedes Gespräch mit ihr zu einer heiteren kleinen Reise. Nach Erlands Tod versuchte ich sie fünf-sechs Mal zu erreichen, doch sie hob nicht ab. Mein Chatversuch auf einem Internetportal verlief ähnlich: Sie wechselte ein paar kurze, müde Zeilen mit mir, und ich bekam das bedrückende Gefühl, dass sie vor Trauer am Erlöschen war. Ihre Einsamkeit war mit Händen zu greifen. Auf meinen Vorschlag, einmal zu telefonieren, verschwand sie ohne Antwort aus dem Chat. Drei-vier Monate später vergiftete sie sich mit Tabletten. Die Kinder legten ihre Urne zu Erland.

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