Auf einen Schlag wurde es still im Raum. Das Klappern von Tellern und Besteck verstummte, die Unterhaltung brach ab, als hätte man sie durchgeschnitten, und man hörte nur noch diese eine klare und doch so wundersam wandelbare Stimme. Sie imitierte einen näselnden Bürokraten des britischen Hofs, der die Formalien erklärte, unter denen man von der Queen in den Adelsstand erhoben wurde. Blasiert und unnahbar spulte der Höfling ab, wie man sich zu bewegen, zu verneigen, zu verhalten hatte, als stünde er mitten unter uns. Die zwei Dutzend Gäste unseres mitternächtlichen Dinners waren erstarrt und lauschten. Etwas von Andacht lag in der Luft und von atemloser Bewunderung, während der Sprechende vom Nebentisch einen Höfling karikierte, indem er ihn einfach nur präzise verkörperte. – Bis in die kleinste stimmliche und sprachliche Nuance hinein. Keiner von uns, dem in diesem Moment nicht die Gestalt eines hageren, verkniffenen Dieners der Monarchie erschienen wäre, eine zwanghaft-unfreundliche Figur, direkt an unserem Tisch stehend und jedem einzelnen von uns mit knarrender Strenge bedeutend, dass der Hof gottgleich war und der Untertan nur ein Gewürm, dessen kurzfristige Anwesenheit an dieser heiligsten aller Stätten nur der Gnade seiner Beamten geschuldet war und nicht etwa der eigenen Bedeutung. Man fröstelte vor so viel Allmacht in einer einzelnen Stimme. Und man fröstelte, wie Peter Ustinov, vom Nebentisch aus und verschwunden zwischen seinen Tischnachbarn, diese unglaubliche Macht besaß, allein mit seiner Stimme einen Raum so auszufüllen, dass er sich in einen britischen Thronsaal verwandelte, in dem Peter nun gerade zum „Sir Peter“ erhoben wurde.
Unter Schauspielern ist der Begriff „Präsenz“ nicht mehr als ein Terminus Technicus: Er bezeichnet die Ausstrahlung eines Menschen und seine Fähigkeit, die Aufmerksamkeit anderer auf sich zu ziehen und sie an sich zu binden. Zu Recht bezeichnen Bühnenmenschen sie auch als „Raumverdrängung“: Schauspieler XY betritt die Bühne, und schon sind die anderen Akteure so gut wie nicht mehr da. Doch kommt noch ein weiterer, zutiefst irrationaler, Faktor hinzu, den man am besten als Glaubwürdigkeit oder Stimmigkeit bezeichnet: Die Fähigkeit einer Person, das Gesagte und Verkörperte so darzubieten, dass es auf der anderen Seite auch angenommen wird. Unabdingbare Voraussetzung hierfür ist, dass die Person an sich als stimmig und kongruent empfunden wird. – Eine nonverbale Kommunikation, für die es keine überzeugende Beschreibung gibt, und von der die Psychoanalytiker sagen, das Unbewusste des Akteurs kommuniziere mit den Unbewussten der anderen Personen. Es geht also um Signalität und Empfang.
In aller Regel bedarf es dazu der Mimik und der Körpersprache. Dass Ustinov es ohne jeden Blickkontakt nur mittels seiner Stimme zustande brachte, sagt einiges aus über die Persönlichkeit dieses in jeder Weise ungewöhnlichen Mannes. Eigentlich ist er unter der Vielzahl meiner Begegnungen der Einzige, den die Götter so überaus reichlich ausgestattet hatten. Dass an diesem Abend selbst Größen wie das Urgestein Willy Millowitsch oder WDR-Intendant Friedrich Nowottny verstummten, mag etwas aussagen über den magischen Bann, in den Peter Ustinovs Hofbeamter uns alle gezogen hatte.
Ich bin in meinem Wirtschaftsleben einigen Staats- und Regierungschefs begegnet und einer Reihe von Wirtschaftsgrößen. Viele von ihnen hatten sich Techniken der kommunikativen Überwältigung angeeignet, mittels derer sie das Gegenüber so unter Druck setzten, dass sie sich am Ende stets gewaltsam durchsetzten. So verließ ich als junger PR-Mann eine Besprechung mit Helmut Kohl im kleinen Kreis regelrecht angewidert, nachdem ich Kohls Techniken schnell durchschaut hatte, jeden von oben herab zu zerlegen, der nicht seiner Meinung war oder seinen Interessen im Weg stand. Das Üble ist, dass solche Charaktere stets eine Kielwelle von wieselnden Nachahmern hinter sich her ziehen, die das Klima – hier das politische Klima – nachhaltig schädigen. Charismatische Figuren hingegen überzeugen nicht aufgrund ihrer verbalen Gewalt, sondern aufgrund ihrer Persönlichkeit. Die neben Ustinov beeindruckendste Persönlichkeit, der ich je begegnet bin, war der verstorbene Staatsgründer der Vereinigten Arabischen Emirate, Sheikh Zayed Bin Sultan al Nahyan. Der alte Beduinenführer mit dem von Sand und Sonne zerfurchten Antlitz war ein warmherziger und nachdenklicher Mann, von dem in der Tat eine große Magie ausging. Dass seine Emiratis ihn heiß und innig liebten, war keine aufgezwungene Verherrlichung, sondern echte Zuneigung. An diesem Abend erzählte er uns, wie sehr sein Volk gelitten hatte, oft auf der Suche nach Wasser, bis die Entdeckung des Erdöls es erlöst und nach oben katapultiert hatte. Unübersehbar hatten diese Erfahrungen den damals jungen Sheikh geprägt und ihn auf dem Boden bleiben lassen. – Sheikh Khalifa Bin Hamad al Thani hingegen, der im Exil lebende gestürzte Staatschef Quatars, den ich kurz nach dem Besuch beim VAE-Präsidenten sah, war ein Mann ohne jegliche innere Balance mit dem Charme einer Sandviper. Sein Versuch eines Gegenputsches scheiterte kläglich, und er musste seine Absetzung zähneknirschend akzeptieren. Die übelste Figur allerdings, der ich überhaupt je begegnet bin, war der Apartheid-Präsident Pieter Willem Botha, – eine eiskalte Type, die Mord förmlich ausdünstete.
Es gibt also eine positive, von innerer Gelassenheit und dem Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten getragene Präsenz und das negative Gegenstück dazu, das von aggressiven Instinkten getrieben wird und alles andere als Stabilität vermittelt. Nicht selten scheitern diese Charaktere im letzten Lebensdrittel. Otto Kernberg, eine Legende von Psychoanalytiker, schreibt von den „verheerenden Folgen des Narzissmus“ im letzten Lebensdrittel, in denen nur allzu oft explodiert, was sich auf der anderen Seite über Jahrzehnte hinweg aufgestaut hat. Botha musste gehen, Sheikh Khalifa war politisch erledigt, und über Kohl verliere ich kein Wort mehr.
Ustinov mochte mich, und ich gebe zu, ich genoss es, denn ich verehrte ihn. Als er mir erzählte, wie sehr ihm mein Arktisroman „Robbenfraß“ gefallen hatte, wurde ich trotz meiner 194 Zentimeter nochmals einen Kopf größer. Ohnehin war er äußerst unkompliziert: Zwischendrin sandte er ein Fax aus irgendeinem Hotel, oder er rief einfach mal an, oder wir liefen uns in Hongkong zufällig über den Weg. Ich hatte ihn als Star für meine Europakampagne im Auftrag der Brüsseler Kommission gewinnen können und ihn dazu auf dem Pariser Trocadero fotografieren lassen.
„Wann sollen wir da sein, Mr. Ustinov?“
„Rufen Sie mich an, wenn Sie am Trocadero sind.“, antwortete Maggie Thatcher. „Ich hab ja nicht weit.“
Er kam breit grinsend an, mit einer Hand winkend. Wir standen zu Füßen des Monument du Maréchal Foch, und ein gut aufgelegter Peter Ustinov spielte uns Teile seines Programms vor: Maggie Thatcher, Leonid Breschnew, Ronald Reagan und ein gutes Dutzend anderer. Zwischendrin sang er eine Bachfuge. Die CGT hatte eine Demonstration angekündigt, und so war der Trocadero umringt von grünen Polizeibussen, aus denen heraus schwer gerüstete Polizisten sich ungläubig die Nasen an den Scheiben plattdrückten. Der Fotograf und ich saßen auf dem Boden vor Lachen.
Man sollte nicht unterschätzen, wie wichtig Präsenz und Authentizität für eine wirtschaftliche Führungsposition sind. Denn wer führen will und dabei auf das Terrorinstrument des permanenten Zwangs verzichten will, der muss überzeugen. Und zwar nicht nur argumentativ – also vom Kopf her – , sondern auch als Persönlichkeit. Es sollte nach den obigen Ausführungen klar sein, dass solche Qualitäten beim Coach nicht einfach antrainiert werden können, sondern durch konsequente und konfrontative Arbeit an sich selbst erworben werden müssen. Präsenz, zu der es in der wissenschaftlichen Fachliteratur so gut wie keine nennenswerten Ausführungen gibt, ist also der Widerschein der inneren Persönlichkeit nach außen und damit auch eine visuelle und sensorische Beschreibung des inneren Zustands des Agierenden. Berücksichtigen wir die gängigen Modelle, nach denen etwa 7% der menschlichen Kommunikation auf der bewussten Ebene stattfinden, während sich die anderen 93% auf der unbewussten ereignen, bekommen wir eine Ahnung von der immensen Bedeutung nonverbaler Qualitäten.
Als wir mit vor Lachen tränenden Augen unsere Fotosession beendeten, lud ich Peter Ustinov auf einen Kaffee in einem naheliegenden Bistro ein.
„Gerne!“, sagte er, „Gleich!“ und begann die leeren Filmschachteln vom Boden aufzusammeln, bis ich mit einem entsetzten „Das dulde ich nicht!“ dazwischen ging. Vielleicht beleuchtet diese kleine Szene ganz gut den engen Zusammenhang zwischen echter Größe und Bodenständigkeit – zutreffender noch: Demut -, ohne den glaubwürdige Präsenz nicht vorstellbar ist. Ein Coach, der seine/n Klienten/in ernst nimmt und achtet, wird folglich darauf Wert legen, dass dessen/deren Persönlichkeit nicht noch durch zusätzlichen Lernballast befrachtet wird, sondern dass sie im Gegenteil den Weg zu sich selber findet. In die eigene Mitte also, wie Karlfried Graf Dürckheim es in seinem Klassiker „Japan und die Kultur der Stille“ einst formuliert hat.
„Mein Lieber“, sagte Peter, denn „Sir“ wurde er erst etwas später, und erhob sich von unserem Kaffeetisch. „Ich muss jetzt leider gehen, denn ich muss noch meine Rede fertig schreiben.“
„Oh“, sagte ich. „Welche Rede denn?“
Seine Gesicht verzog sich, und auf einmal saß uns der französische Staatspräsident Francois Mitterand gegenüber: „Üsch wärdä nächstö Woschä Mütglüd dör Academie Francaise.“
Seine Rede war ein voller Erfolg.