Dem Flüchtling, so viel ist bekannt, wird praktisch alles hinten reingeschoben. Und das ist wahr, denn was man überall hört, kann nicht falsch sein. Sie bekommen kostenlos eine Wohnung. Sobald sie drin sind, fressen sie uns alles weg, nehmen uns unsere Frauen weg, stehlen – das machen sie ganz besonders gerne – alten Frauen die Fahrradln und werden praktisch überall frech. Man darf dem Flüchtling nix sagen, ohne dass er gleich zuhaut, denn der Flüchtling hat keine Kultur, sonst wär er ja keiner. Und ob er wirklich vertrieben worden ist, weiß man´s? Besser ist, man traut ihm nicht, denn von Natur aus ist er auch noch falsch. Und undankbar auf jeden Fall, denn der Flüchtling ist immer einer, der bloß die Hand aufhält. Deswegen gehört der, der ihn bei uns hereingelassen hat, „aufg´hängt“, aber heute traut sich ja keiner mehr was.
Wer nun glaubt, ich hätte politisch die Seiten gewechselt, der ist zu kurz gesprungen: Ich gebe lediglich Phrasen wieder, die ich während meiner Kindheit in den Fünfzigern des vergangenen Jahrhunderts täglich zu hören kriegte, und die ich als Sechs-Siebenjähriger willig nachplapperte. Umso williger, als mir „einer von denen“ mitten im Winter die Unterlippe aufgeschlagen hatte, nur weil ich ihn traditionsgemäß als „Flüchtlingssau“ bezeichnet hatte. So was wäre umgekehrt in Ordnung gewesen, aber dem Flüchtling stand so etwas – da war man sich einig – nicht zu. Schließlich war er ein Zugezogener, den niemand hierher eingeladen hatte.
So war „der Flüchtling“ zutiefst ungewollt, und man ließ es ihn spüren. Allerorten wurde gezischelt, als im Westen meiner Heimatstadt Ackerland als Bauland ausgewiesen wurde und man ganze Blocksiedlungen für ihn hochzog, sogenannte „Heimstätten“, nach denen man praktischerweise die Heimstättenstraße benannte, damit klar war, welche Gebiete man als Einheimischer zu meiden hatte. Denn dort wohnten die „Grattler“ aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Perfiderweise hatten die Neubauten bereits Wasserspülung in den Toiletten, während dies damals beim Normalbürger eher die mondäne Ausnahme war, und so schäumte der Zorn hoch, dass man Leuten die „früher nix g´habt“ hatten, jetzt den schieren Luxus in den Hintern blies. Ausgegrenzt und ungewollt bildeten die hier geborenen Flüchtlingskinder eigene kleine Gangs, mit denen sie uns „Normale“ schikanierten und verprügelten, womit auch dem Dümmsten klar werden musste, „was für Einer“ der Flüchtling war, und dass er keinerlei Anzeichen von Integrationsbereitschaft zeigte. Noch dazu war klar, dass der Flüchtling nicht mehr gehen würde, weil „der Polack“ sein Land besetzt hatte und es nicht mehr herausrückte. So dass der Flüchtling viele Generationen lang als Flüchtling unter uns leben würde, – von Manchen auch tituliert als „Berufsflüchtling“ -, ohne jemals „einer von uns“ werden zu können, denn das war er ja nicht.
Die deutsche Nachkriegsgesellschaft stand vor einer riesigen Aufgabe, die sie unter Führung des damaligen Kanzlers Adenauer größtenteils bravourös bewältigte, bedenkt man, in welchem zerbombten Zustand das Land sich befand, in das Millionen deutscher Vertriebener hineinfluteten. Ob man es schaffen würde, war kein Diskussionsthema, denn eine Alternative gab es nicht. Die „Argumente“ jedoch, die man tagtäglich von einer frustrierten Bevölkerung zu hören bekam, dürften den meisten Lesern aus aktuellem Anlass bekannt vorkommen. Ihre Dummheit, ihre Gehaltlosigkeit und ihre Infamie entstammen offenbar untersten Triebschichten, die so stark sind, dass sie damals jede realitätskonforme Annäherung an das nicht zu leugnende gesellschaftliche Problem verhinderten, so wie sie es heute wieder tun. Selbst die Kinder der Verhassten, so niedlich und liebenswert sie als Einzelfälle waren, vermochten die Front nicht aufzuweichen: „Am End´ bleibts´s ein Flüchtling. Des is jedenfalls meine Meinung!“
Territorialität, Nahrung und Reproduktion sind nach Irenäus Eibl-Eibesfeldt, dem großen Schüler des Verhaltensforschers Konrad Lorenz, die verhaltensbiologischen Grunddeterminanten des Menschen, deren wenn auch nur vermeintliche Verletzung zu reflexhaften Abwehrreaktionen aus tiefsten Hirnregionen führt: das Eindringen ins eigene Gebiet, das „Wegfressen“ eigener Ressourcen, der „Diebstahl“ der eigenen Frauen und Männer zu Reproduktionszwecken, das löst archaische Aggression aus, bei der Verstand außen vor bleibt. Und man merkt ja auch, dass Stimmungen gegen Migrationsgruppen stets resistent sind gegen Sachargumente, während die Stimmungsmacher aus ihrer Befindlichkeit heraus die Realität selektiv wahrnehmen und nur bestätigende Gesichtspunkte akzeptieren. Deren Hinterfragung hingegen führt zu Aggression und/oder Gewalt, sei es durch das Verprügeln „linker Zecken“ oder das Anzünden von Flüchtlingsheimen.
Ein häufiges Argument gegen „den Flüchtling“ war in meiner Kinderzeit, sie seien dahergekommen und hätten „nix zum Fressen“ gehabt, was bei nüchterner Betrachtung nicht weiter verwundern dürfte. Der Flüchtling habe daraufhin Bauernhöfe aufgesucht und um etwas zu essen gebeten, wenigstens für die Kinder, doch meist sei er barsch weitergeschickt worden. Seine Verschlagenheit habe sich nun darin offenbart, dass er tatsächlich nicht weiterging, sondern zu beten anfing. Da hätten die meist recht katholischen bayerischen Bauern „nimmer aus´können“ und murrend etwas herausgerückt. De facto also habe der Flüchtling die Unglücklichen erpresst. Heute nennt man das „victim-blaming“.
So horribel dieses ganze Gerede einerseits ist, so aufschlussreich ist es im Hinblick auf die Psychologie derer, die es von sich geben. Denn es offenbart ihre Projektionen: Selber reflexhaft aggressiv aufgeladen von der nicht zu leugnenden Verletzung ihrer primären Matrix Territorialität/Nahrung/Reproduktion, projizierten die Einheimischen ihre eigene Aggression nach außen: auf Menschen, die genau diese existentielle Troika verloren hatten. Nicht länger konfrontiert mit der eigenen Aggression, konnten sie so ihr biederes Selbstbild aufrechterhalten, denn die Feinde kamen selbstredend von außen und waren keine Hilfesuchenden, sondern eine Art von Wegfressern. – Wohlgemerkt: es soll nicht Partei ergriffen oder polemisiert werden. Doch sei darauf hingewiesen, dass bei einer derartigen psychischen Konstellation praktisch keine Chance mehr besteht, ein real existierendes Problem mit sachgemäßen Strategien zu lösen. Wer Parallelen sieht zur heutigen Situation, der möge sich nicht wundern. Auch heute werden real nicht begründbare „Ängste“ vorgeschoben, um eine aus tiefsten Hirnregionen emanierende Wegbeiß-Reaktion zu legitimieren. Kein Wunder also, dass einen Vieles daran als ziemlich pathologisch anmutet.
Betrachtet man das Wahlergebnis in Mecklenburg-Vorpommern, so bleibt man erst einmal ratlos: Wer dringt hier ein und raubt Frauen und Nahrung? De facto niemand, bzw. eine lächerlich geringe Zahl von Migranten. Dennoch war die „Flüchtlingsproblematik“ das Hauptthema der Demagogen und die Ursache ihrer Stimmengewinne. Das Versagen der Politik offenbart sich nun gerade in ihrem recht einfältigen Geschwurbel zu diesem Phänomen. Nach allen Gesetzen der Logik kann man nur gegen einen „Eindringling“ vorgehen, der auch existiert. Existiert er real nicht, bekommt die ganze Geschichte etwas Wahnhaftes. – Es sei denn, es existiert ein wirklicher Triebstau, der mittels einer sogenannten „Aggressionsverschiebung“ kompensiert wird.
So jedenfalls bezeichnet die Sozialpsychologie die „Tendenz Aggressionen gegen unbeteiligte Dritte zu richten, wenn sie nicht gegenüber der ursprünglichen Quelle der Frustration zum Ausdruck gebracht werden können“. Und das kommt dem Ganzen schon viel näher. Die aufgestaute Wut, vorwiegend in ostdeutschen Regionen, mag berechtigt sein oder nicht, sie ist jedenfalls da. Und wer damals mitverfolgte, wie dilettantisch und verantwortungslos die Vereinigung durchgezogen wurde, der wird den Ostdeutschen ihre Wut nicht absprechen können. Schon Hans Modrow, der letzte DDR-Ministerpräsident, mit dem ich wenige Tage vor der ersten gesamtdeutschen Wahl die erste Talkshow in Bonn durchführte, warnte in unserem Gespräch genau davor.
Man müsste also ganze Regionen unseres Landes sozusagen „ent-wüten“, wollte man dem Problem gerecht werden. Das jedoch ließe sich nur durch eine langfristig denkende politische Konzeption bewerkstelligen, an der es fehlt. Denn „Psychodynamik“ ist in der Politik ein unbekannter Begriff, „Verwaltungsvorschrift“ dafür umso populärer.
Allerdings sind diese Verschiebungen nicht nur in der politischen Landschaft anzutreffen, sondern fester Bestandteil eines jeden analytisch orientierten Coachings: Ängste und Projektionen, die aus der Kindheit stammen, und dort jede Berechtigung hatten, werden nun auf neue Objekte gelegt. Chefs, Kollegen, Teilhaber und noch einiges andere. Die Mutter, die von mir immer nur verlangte widerspruchlos zu funktionieren, lege ich nun auf eine zickige Untergebene, derer ich nicht Herr werde. Den autoritären und leistungsfordernden Vater finde ich wieder im Geschäftsführer, der sich wie ein Trampel benimmt. Und im Flüchtling erkenne ich entweder den konkurrierenden Artrivalen oder das Bild meiner eigenen Schutzbedürftigkeit aus frühen Jahren. Letzteres dürfte dem Menschsein näher kommen als jeder animalische Primärreflex. Und so wäre es langfristig sinnvoller, die Ängste anzusprechen, als deren Träger zu verdammen. Da die Diskussion von beiden Seiten meist nur reflexorientiert geführt wird, sehe ich da schwarz.
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