Therése und die Freiheit des Unternehmers.

Etwas Unruhiges war stets um Therése, etwas Aufgedrehtes, etwas Unstetes, etwas dauerhaft Zu-kurz-Kommendes. Das verwunderte. Denn die bildhübsche rothaarige Studentin aus unserer Universitätsclique verstand es, sich überall schnell in den Mittelpunkt zu manövrieren: Ihre Scharfzüngigkeit, die ihrer messerscharfen Intelligenz in nichts nachstand, verbunden mit ihrer quirligen Art aufzutreten, sicherten ihr zügig die Aufmerksamkeit jeder Gruppe. Viele von uns verehrten sie, manche probierten es bei ihr, keinem gelang eine dauerhafte Eroberung, denn niemand schien ihr zu genügen. – Kein Wunder: Die attraktive Tochter wohlhabender Unternehmer, die im Boom der Nachkriegszeit einen Betrieb mit mehreren hundert Mitarbeitern aufgebaut hatten, wusste um ihren gesellschaftlichen Wert, wenngleich dieser ihr auch die Orientierung zu rauben schien. Sie schien es zu verdrängen und lebte ein fröhliches Cliquenleben, bei dem sie alle Kontakte eigenartig unverbindlich hielt: schnell landend, kurz saugend, dann weiterflatternd; neugierig und verspielt, dennoch immer irgendwie suchend. Als Einzige unserer Jahrgänge fuhr sie einen fabrikneuen Renault Alpine, den die Eltern ihr ohne besonderen Anlass spendiert hatten. Dazu kam unmittelbar neben dem geräumigen Haus mit der extra für sie gebauten Einliegerwohnung ein großes Grundstück, auf dem ihre vier Pferde grasten, die sie mit Hingebung ritt und versorgte. Sie war, wie sie einmal nachdenklich konstatierte, „so aufgewachsen und gewohnt, dass immer alles da war.“

Wer ihr allerdings näher kam, der begriff, dass sie ein Leben führte, das von goldenen Gitterstäben umsäumt war: Sie war die Unternehmertochter. Ihr war vorbestimmt, dass sie später „im Werk“ eine Aufgabe erhalten würde, und dass ihr Leben und ihre persönliche Entwicklung sich darauf zu fokussieren hatten, diesem Anspruch zeitig gerecht zu werden. Der Vater, nach einem schweren Infarkt geschwächt, hatte im Lauf der letzten Jahre seine Macht schleichend, doch unübersehbar, an seine ehrgeizige Gattin verloren, die unter dem Druck von Markt und Bilanzen das Unternehmen mit der gleichen stählernen Härte leitete, die sie schon bei der Führung der Familiengeschäfte entwickelt hatte: Aus einfachem Hause stammend, war sie stets bemüht gewesen, vor den wirtschaftlichen Leistungen des Ehemannes nicht zu versagen. Glück zählte wenig bei diesem Vorhaben.

Therése, die ich eine Zeit lang öfter traf, als meinem studentischen Seelenleben gut tat, offenbarte bald, dass sie an ihrem Leben litt: Materiell gut gestellt, führte ihre junge Frauenseele das Dasein eines angeketteten Hundes, der bei karger Kost das häusliche Anwesen zu bewachen hatte. Der knorrige Vater zwar schien sein Kind zu vergöttern, doch waren ihre Träume und ihr Freiheitshunger ihm fremdgeblieben, der erst vor Stalingrad und dann in der Mühle des Wirtschaftsaufbaus seine Freiheit hatte liegen lassen wie eine verschlissene Strickjacke. Doch gestand er ihr einen halbjährigen Auslandsaufenthalt zu, denn die Erfahrung der Tochter im belgischen Zweigwerk würde der Firma, so war er überzeugt, zugutekommen. Wir beneideten sie um ihren Lebensstil und ihre Internationalität. Sie wiederum wirkte bisweilen unnatürlich aufgedreht, und ihre aufgesetzte  Heiterkeit vertrug sich nicht mit den oft in Ferne und Leere abgleitenden Augen.

So saß ich Abende lang mit ihr, und bald schon offenbarte sie den verzweifelten Kampf, den sie führte: Sie konnte keinen Schritt tun, ohne dass die Mutter sie kontrollierte. Eigener Lebenshunger und eine Lebensplanung, die sich auf völlig andere Ziele richtete, wurden, sobald sie sich nur zaghaft aufrichteten, von derben Stiefeln niedergetreten: „Du weißt, was deine Pflicht ist.“
„Aber ich schaff´es.“, redete sie sich in Fahrt. „Ich will einfach nur noch weg, und was ganz anderes machen.“
„Was wäre das?“
„Irgendwas mit Kunst. Ich hab zu meiner Volljährigkeit einiges an Geld übertragen bekommen. Das würde reichen, um mir eine Galerie einzurichten. – – – Ich darf gar nicht dran denken, wie das bei denen einschlagen wird! Das werden die überhaupt nicht begreifen können.“
Kunst lag mir nahe, ich hatte gerade mit dem Schreiben begonnen. So sagte ich ihr jede moralische Unterstützung zu.

Wir verloren uns aus den Augen, und einige Jahre später heiratete sie standesgemäß. Ich war nicht schlecht erstaunt, eine handgeschriebene Einladung zum Polterabend vorzufinden, die ich wegen eines Aufenthalts in Helsinki nicht wahrnehmen konnte. Aber ich hatte auch keine Lust dazu, denn ich wusste, dass der Familienkrake sich um sie zusammengezogen hatte. Umso verwunderter war ich, als sie mich fünf Monate später anrief, um mit mir Abendessen zu gehen.

Sie wirkte restlos am Ende. Das Gesicht der Dreißigjährigen war welk, zwischen Nase und Mundwinkeln zogen sich bittere Nasolabialfalten, unübersehbare Anzeichen einer Depression.
„Ich brauch jemand zum Reden.“, sagte sie. „Ich hab sonst niemanden.“
„So schlimm?“
Sie nickte verhärmt. Der frisch angetraute Gatte hatte sie bereits drei Monate nach der Hochzeit mit einer gemeinsamen Bekannten betrogen. Sie hatte den Verdacht, dass es schon vor der Heirat so gelaufen war, und dass die vermeintliche Liebesheirat dabei war, sich als wirtschaftliches Kalkül zu entpuppen.

„Und du hast nie etwas bemerkt?“
Sie schüttelte den Kopf. „Als ich mit ihm auf dem Standesamt gesessen bin, hab ich mir noch gedacht: Mein Gott, wie Viele werden den Hintern schon auf diesem Stuhl gehabt haben und haben sich insgeheim gefragt, ob sie das Richtige tun! Und ich war mir so absolut sicher!“
„Du hast etwas gespürt.“, grübelte ich. „Du hattest deinen eigenen Zweifel. Aber du hast ihn erstickt und nach außen gelegt.“
„Das ist genau das, was ich jetzt brauche!“, heulte sie auf. „Ich dachte, ich kann dir vertrauen!“
Mit fahrigen Fingern ergriff sie ihre Handtasche und rauschte ab.
„War irgendwas nicht in Ordnung?“, fragte die verdatterte Serviererin, als ich um die Rechnung bat.
„Mehr als Sie sich denken können.“, knurrte ich.

Therése rief ein paar Tage später an, um sich neu mit mir zu verabreden. Sie sprudelte wie immer und wollte sich nun endgültig lossagen „von der ganzen Mischpoche, die mich andauernd nur aussaugt“ und sich „auf eigene Beine stellen“. Ihren Vorschlag, nochmals essen zu gehen, lehnte ich allerdings verärgert ab: „Solange ich dich kenne, quakst und quakst du herum, ohne dass auch nur irgendetwas passiert. Wenn du wirklich etwas ändern willst, dann tu etwas! – TU endlich etwas!“ – Jahre später verließ ich die Stadt, ohne dass wir einander nochmals begegnet wären.

Es war über fünfundzwanzig Jahre später, dass ich im Rahmen einer Internetrecherche auf einen Presseartikel mit ihrem Foto stieß. Ein Wirtschaftsmagazin berichtete über die Auszeichnung zweier Vertriebsmitarbeiter in ihrer Firma, die als „Salesmen of the year“ mit Reisen beschenkt wurden.  Therése hatte als Mitglied der Geschäftsführung die Ehrung vorgenommen. Während die beiden Angestellten stolz in die Kamera strahlten, streifte ihr Blick verloren ab ins Nirgendwo. Ihre ganze Körpersprache signalisierte Distanz und Mutlosigkeit und zeigte, wie unwohl sie sich fühlte. Ihr Oberkörper war zusammengesunken. Neugierig vergrößerte ich das Motiv und sah, dass die Mittfünfzigerin vorzeitig gealtert war, und dass die Nasolabialfalten unter den erloschenen Augen tiefe Kerben in ihr Gesicht gegraben hatten. Es reichte, um mir alles Weitere vorstellen zu können.

„Ein falsches Selbst hält bis etwa Mitte vierzig, bei Manchen auch noch ein paar Jahre länger. Aber dann kracht es zusammen.“, hatte mir eine befreundete Psychoanalytikerin, mit der ich einige Coachingfälle durchgesprochen hatte, einmal gesagt. „Die Wenigsten, die permanent gegen sich selber leben, halten das durch. Ein Großteil der schweren Erkrankungen der Endvierziger und Anfangsfünfziger hat eine psychoregulatorische Vorgeschichte.“

Therése jedenfalls hatte es nicht geschafft. Wie viele hysterisch strukturierte Charaktere, hatte sie sich in Phantasien einer Selbstbefreiung ergangen, deren Umsetzung in die Realität an ihrer sofort einsetzenden Panik scheiterte. Diese Panik ist umso wirksamer, je unbewusster sie abläuft, während sie vordergründig mit lauter „Vernunftgründen“ verschleiert wird. Als Ergebnis des mütterlichen Zwangssystems litt Therése an einer sogenannten „Sperrung“, die es ihr unmöglich machte, existentielle Entscheidungen zu ihren Gunsten zu treffen. Sie arrangierte sich vordergründig und kompensierte ihre Verzichtsleistungen über Annehmlichkeiten, die das Primärbedürfnis nicht zu stillen vermochten. Die aufgestaute Aggression gegen die Mutter richtete sich explosiv gegen alles, was das eigene Zwangssystem gefährdete, – ein sogenannter „Objektwechsel“.

Freiheit bedeutet auch die Freiheit unterzugehen. Ein Großteil meiner Coachingarbeit heute besteht daraus, meine Klienten wieder zu sich selbst zurückzuführen. Die Meisten nämlich haben aufgrund permanenten externen Erwartungsdrucks aufgehört, sich selbst zu spüren, – falls sie es jemals getan haben. Sie bestaunen mit Kinderaugen, dass es so etwas gibt wie ein „Selbst“, und dass dieses „Selbst“ imstande ist sie zu führen. Die Reha-Kliniken sind voll von Leuten, die es im Stich gelassen haben, um anderen gefügig zu sein. Der Preis dafür ist hoch.

2 Idee über “Therése und die Freiheit des Unternehmers.

  1. Barbara Preßler sagt:

    Therése ist spannend und sie tut mir irgendwie leid, ich denke, daß ihr auch die Liebe gefehlt hat – egal jetzt von welchem Mann.

    Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Feiertag Herr Späth.

    Freundliche Grüße
    Barbara Preßler

  2. Andrej J. sagt:

    Traurige aber wachrüttelnde Geschichte. Sicher geht es einigen so, die bessergestellt scheinen. Sehr gut geschrieben auch, wie ich finde.

    Ich denke der Dame hat vor allem die Selbstliebe gefehlt, die oft eine klare elterliche Liebe voraussetzt. Ich hoffe nur, dass die, welche noch können daraus lernen. Veränderung sofort zu erwarten finde ich allerdings schwierig. Mir hilft meist allerdings meist besser eine klare Vision und die Geduld zu haben Schritt für Schritt voranzukommen.

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