Über den vergessenen Schmerz.

Die Klientin, obwohl gute eins-siebzig groß, wirkt seltsam gedrungen, um nicht zu sagen: gestaucht. Der ganze Körper steht unter Anspannung, ist kontrahiert, die Bewegungen in ständiger Habacht-Stellung. Der Hals ist eng zwischen die Schultern gezogen, der Blick kommt von unten her. Die angespannten Lippen gehen an den Mundwinkeln über in einen deutlichen Abwärts-Knick, wirken kämpferisch-trotzig, während die unruhigen Augen mich prüfend absuchen. Ich fühle mich unwohl, misstrauisch, frage mich, was da auf mich zukommt.

Nina hat Stress. Sie fühlt sich gemobbt, kaltgestellt, abgelehnt.
„Aber“, sagt sie voller Schärfe, „ich lass mich nicht verarschen! Sie haben´s mehrfach probiert mich loszukriegen, – aber nicht mit mir!“ – In ihren drei vorigen Jobs wurde sie gefeuert, weil man mit ihrer „unkonventionellen Art“ nicht konnte.
„Wie lange geht das jetzt schon?“
„Im jetzigen Job seit über siebzehn Jahren!“
So lange schon steht sie dort täglich auf „gegen die Obrigkeit“ und hat inzwischen die gesamte Leitung ihrer staatlichen Organisation gegen sich. Sie fühlt sich im Recht, betrachtet sich als „die Beste im Team“ und hat die Moral vollständig auf ihrer Seite. Jetzt will sie einen Coach, „damit die´s am Ende nicht doch noch schaffen mich fertig zu machen.“ Aufrüstungs-Coaching sozusagen. Tricks beibringen, wie man die Angreifer erledigt. Klaro.

Die Sitzungen verlaufen flüssig, doch gehen sie alle in eine Richtung: „Die da oben“ sind Lumpen, Gauner, Schweine, unfähig, selbstgefällig, korrupt, sehen nicht, was sie in ihrem Beruf leistet, kennen nur sich selber und die eigene Karriere. Nina spricht mit einer Mischung aus Hass und Verachtung von ihnen. Die Realitätsverzerrung springt ins Auge: Wer über mir ist, will mir nur Übles, und ich muss ihn mit allen Kräften bekämpfen, wenn ich ihn schon nicht vernichten kann.

Projektion, so definiert es die Fachliteratur, ist die Verlagerung eines gefürchteten Triebimpulses in die Außenwelt, – sei es auf eine Person oder einen Gegenstand. Nach dem Freud-Schüler Carl Gustav Jung handelt es sich um einen Abwehrmechanismus zur Bewältigung der Negativanteile der eigenen Persönlichkeit. Somit gibt Nina uns wertvolle Informationen: sie ist voller Hass, doch ist es für sie nicht möglich, ihren Hass als Teil ihrer selbst zu akzeptieren. Vielmehr muss sie ihn nach außen verlagern. Damit liegt er dann bei Anderen, wird rückkehrend zur gefühlten Bedrohung für sie selbst und somit auch zur immer wieder erlebten Bestätigung ihrer Sicht der Welt. Nina, so scheint es, leidet nicht einmal darunter. Sie liebt den Kampf gegen die Ungerechten, wirkt hochgradig agil und konfliktbereit, und sie versteht es meisterhaft, die Situationen so zu zeichnen, dass am Ende Zwei übrig bleiben: Oben der Missbraucher, und unten diejenige, die sich heftig wehrt. Nina lebt alleine, will allerdings auch nicht „irgend so nen Dödel, der alles mit sich machen lässt.“ So wie sie ihre Bedürfnislage darstellt, geht es nicht um einen liebevollen Partner, bei dem sie sich geborgen fühlen kann. Sondern um einen Mit-Krieger, der den Kampf mit ihr teilt. Nur manchmal, ganz versteckt, offenbart sich eine riesige Sehnsucht nach Männerarmen, in denen sie sich gehalten fühlen kann.

Hier stellen sich zwei wichtige Fragen: Erstens, wo kommt der ungeheure Hass her, der sich gegen alles richtet, was „oben“ ist, also gegen jegliche Autorität insbesondere, und der die Situationen erst erzeugt, die Nina anschließend bekämpfen muss? Und zweitens, fast noch wichtiger: Was macht diesen Hass so verboten und unerträglich, dass sie ihn nicht mehr in sich erleben kann, sondern ihn auf Andere legen muss, die sie nicht anders verstehen kann denn als Bedroher? Es muss einen Zensor im Unbewussten geben, der eine undurchdringliche Sperre gesetzt hat. Dieser Zensor muss eine riesige Macht haben, mit der er sie klein halten kann. Die dahinter liegenden seelischen Verletzungen müssen enorm sein, ohne dass ich sie bereits identifizieren könnte. Wenngleich die Gesamtsituation in mir einen ungeheuerlichen Verdacht entstehen lässt.

Inzwischen kenne ich alle Chefs, die Nina jemals hatte. Alle männlich, und dazu eine Stellvertreterin, „die zwar gesehen hat, wie der mit mir umgesprungen ist, aber sie hat sich nie dafür interessiert. Immer schön rausgehalten.“ Es gibt keinen, den Nina nicht hassen würde. – Denn so weit sind wir inzwischen schon: Nina hat begriffen, dass ein Großteil der Aggression von ihr selbst ausgeht, und dass sie mittels ihrer Signalität Konfliktangebote unterbreitet, die von der Gegenseite angenommen werden. Nicht zuletzt deshalb, weil die Gegenseite sich bedroht fühlt und am Ende eben doch mehr Macht in Händen hält. – Einfacher formuliert: Nina schlägt nach oben, und die oben treten zurück. Den Schmerz der Demütigung einer daraus nicht selten resultierenden ungerechten Behandlung transformiert sie in eine aufgesetzte Heiterkeit („Kann MIR doch nix anhaben!“), die immer unglaubwürdiger wirkt und ein Potential an menschlichem Schmerz erahnen lässt, das einen als Coach zu größter Behutsamkeit zwingt: „Wenn du mich wirklich erkennst, sei ganz sanft zu mir.“

Nur, erst einmal passiert das Gegenteil: Nina eröffnet die neue Sitzung mit einer wütenden Schimpfkanonade gegen mich, und es fallen Worte, die hier nicht wiedergegeben werden müssen. Ich bin der falsche Hund, der nur hinter ihrem Geld her ist und ansonsten nichts bringt. Fünfzig Minuten lang putzt sie mich zusammen, und ich höre so aufmerksam zu wie nur irgend möglich: Denn es wird ein Erlebnismuster sichtbar, das einen Mann – und sei er ihr auch noch so wohlgesonnen – zur riesigen Enttäuschung transformiert. Nun also bin ICH der Lump, der viel versprochen hat und nichts hält. Sie fühlt sich benutzt, hintergangen – und voller Hass.

„Welchen Mann hassen Sie so, Nina? Wer war der Erste, der Sie so enttäuschte?“
„Das mit unserem Geschäft!“, kommt es wie aus der Pistole geschossen.
„Welches Geschäft?“
„Mein Vater hatte ein Geschäft für Bilderrahmen. Er hatte es mir von klein auf versprochen, und ich wollte es einmal übernehmen, um es in seinem Sinn fortzuführen.“ Mit Nina geht eine seltsame Veränderung vor: ihre Züge werden weich und traurig, die stete Angriffslust ist verschwunden.
„Und?“
„Als er sich zurückzog, übergab er es an meinen älteren Bruder. Dabei verstand der gar nichts davon und ließ den Laden auch verkommen. Und ich war die… die… Beschissene.“ Erste Tränen laufen über ihre runden Wangen.

Bisweilen spürt man als Coach den ungeheuren Schmerz eines Klienten, bevor der selbst Zugang findet. Denn während der Klient sich gegen die Aufdeckung seiner Verletzungen wehrt, sitzt man als Coach mit ausgefahrenen Antennen. Und fragt sich bisweilen, wann der richtige Zeitpunkt für die richtigen Fragen ist. Nicht immer einfach.

So viel jedenfalls steht fest: Der Vater hatte ihr den Laden versprochen und dann sein Versprechen nicht gehalten.
„Ich hab mich so hintergangen gefühlt. – – So … benutzt…“
Es war, sagt sie, ihr Lebenstraum, die erhoffte Auszeichnung durch den Vater, die ultimative Bestätigung ihres Werts: „Der Papa vertraut mir das an, was er selber geschaffen hat.“
„Konnten Sie nie mit ihm darüber sprechen?“
„Er ist kurz danach gestorben.“
Die Tränen, die nun im Übermaß fließen, sind nicht nur echt, sondern sie verändern die Klientin: Sie zeigen eine zutiefst verletzte und enttäuschte Mädchenseele. Und sie verstärken meine dunkle Ahnung. Nina wirkt weich und wie eine eröffnete Frucht, als sie mich am Sitzungsende verlässt.

In der Folgesitzung schält sich heraus, dass sie ihren Vater idealisiert hatte, und dass die Übernahme des Geschäfts nicht nur die Bestätigung ihres Werts als Tochter bedeutet hätte, sondern auch etwas an sich hatte von endgültiger Verschmelzung. „Es hätte mir gezeigt, dass er mich wirklich als Person ernst nimmt.“ Dennoch, wir kreisen um stets das gleiche Thema. Mehr und mehr sieht es nach Deckerinnerung aus: eine Erinnerung, die strapaziert wird, um eine andere, oft unbewusste, Erinnerung unsichtbar werden zu lassen.

Ich überlege lange. „Nina“, sage ich schließlich. „Es geht um mehr als nur um das Geschäft.“
Sie beginnt unruhig hin- und herzurutschen. „Wie meinen Sie?“
„Ein Mann ist über mir. Er will mir Übles. Eine Frau schaut zu, doch sie unternimmt nichts.“

Der Respekt gebietet es, den nachfolgenden Ausbruch zu übergehen. Der Vater hatte sich seiner Zehnjährigen regelmäßig bemächtigt, in der kleinen Werkstatt hinter dem Laden. Die Kleine hatte sich nicht zu widersetzen gewagt, denn sie liebte und verehrte ihn. Um seine Widerwärtigkeiten zu rechtfertigten, versprach er ihr, er würde ihr später einmal sein Geschäft schenken. Das Mädchen, ohnehin in einem Zustand schwerster seelischer Überforderung, hatte sich daran geklammert, weil die perverse Zusage des Vaters ihr eine Art „Scheinlegitimation“ gegeben hatte. Ihm auf Gedeih und Verderben ausgeliefert, hatte sie damit ihren Hass gegen ihn transformieren können in eine „Identifikation mit dem Aggressor“. – Eine kindliche Überlebensstrategie. Erst als er sein Versprechen brach, wurde ihr als Mittzwanzigerin die Perversität dieser Absprache richtig bewusst, und sie brach aus dem seelischen Gefängnis aus, sah sich nach einem eigenen Job um, ohne jemals zu vergessen, dass man sie um den versprochenen „Lohn“ betrogen hatte.

So war ihre Aggressivität Männern gegenüber zweierlei gewesen: Angst vor Missbrauch und Rache für den hinter ihr liegenden Missbrauch. Diesen allerdings hatte sie über all die Jahre hinweg abgekapselt und mit niemandem darüber gesprochen. – Zuallerletzt mit der Mutter, die offenbar beflissen weggesehen hatte, um die „Normalität“ des Familienlebens zu erhalten.

Ich empfahl Nina eine Traumatherapie oder einen Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik, doch klammerte sie sich verzweifelt an mich: Niemals zuvor hatte sie sich einem Menschen so weit geöffnet. Hätte ich mich ihr entzogen, sie hätte auch ich sie fallen gelassen. Eine verdammt schwierige Situation für einen Coach, aber man weiß halt vorher nie, was auf einen zukommt.

Am wichtigsten ist stets der Schutz des Klienten. – Ich schloss mich wiederholt mit einer befreundeten Psychiaterin kurz, und so arbeiteten wir noch eine ganze Zeit lang zusammen, in der Nina nicht nur ausgeglichener wurde, sondern auch ihre heillose Verstrickung in ihre gesamte Arbeitswelt erkannte. Aber manchmal hat man ja auch Glück: Im Rahmen von Umstrukturierungen bekam sie einen „golden handshake“ und ging in den Vorruhestand. Sie arbeitet heute, gut versorgt, als freie Künstlerin. Partner hat sie immer noch keinen, dafür aber vier Hunde.

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